Hochschulseminar – Distanz und Dichte
 
Das kollektive Gedächtnis und der Raum – Maurice Halbwachs
Justus Krause, 10.03.2021
Einführung in das theoretische Konstrukt des Kollektiven Gedächtnisses
nach M. Halbwachs mit Beispielen


At the beginning of the 20th century, the French sociologist Maurice Halbwachs astonished his colleagues with a surprising thesis: there is no such thing as a personal memory in the strict sense. The environment influences all memory contents, and they are therefore "socially framed," as he wrote in the first paper of 1925 on collective memory. According to Halbwachs, collective memory is a repertoire of narratives about the past shared by a social group, for example, a family, a religious community or certain classes. The sociologist stressed that such shared memories should not be confused with scientific historiography. This is because they do not depict the past completely or correctly. Instead, they represent things that seem relevant to the group's present self-image. in many cases, it is quite possible that individuals interpret and shape the details of the narratives differently.

Anfang des 20. Jahrhunderts verblüfte der französische Soziologe Maurice Halbwachs seine Kollegen mit einer überraschenden These: Eine persönliche Erinnerung im strengen Sinn gebe es gar nicht. Das Umfeld beeinflusse alle Gedächtnisinhalte, und sie seien deshalb "sozial gerahmt", wie er in der ersten Schrift von 1925 zum kollektiven Gedächtnis schreibt. Gemäß Halbwachs ist das kollektive Gedächtnis ein Repertoire an Erzählungen über die Vergangenheit, das eine soziale Gruppe teilt, zum Beispiel eine Familie, eine Religionsgemeinschaft oder bestimmte Schichten. Der Soziologe betonte, dass man solche gemeinsamen Erinnerungen nicht mit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung verwechseln dürfe. Denn sie bilden die Vergangenheit weder vollständig noch korrekt ab. Stattdessen repräsentieren sie Dinge, die für das gegenwärtige Selbstbild der Gruppe relevant erscheinen. in vielen Fällen ist es durchaus möglich, dass die Individuen die Details der Erzählungen unterschiedlich deuten und gestalten.
   
Der Turm zu Babel markiert als methaphorisches Beispiel den Verlust des kollektiven Gedächtnisses in Form der gemeinsamen Sprache, gleichzeitig wird ein neues, legendenbeeinflusstes kollektives Gedächtnis begründet. Das bekannte Werk des Renaissance-Künstlers Peter Bruegel steht sinnhaft für die Verbildlichung einer Legende. Heutige Forscher vermuten, dass der Zikkurat (Tempelturm) Etemenanki als Vorbild für die biblische Geschichte gewirkt hat.


Was erinnert an einschneidende Ereignisse des 20. Jahrhundert, wie den Holocaust?
Sicherlich sind es die wenigen verbliebenden Zeitzeugen, das Gehirn als organische Basis, das individuelle Gedächtnis, perspektivisch geprägt durch die eigene Wahrnehmung, verwoben mit Erinnerungen anderer Menschen. Die Erinnerungen sind flüchtig und instabil, sind allein durch die Lebensdauer des Menschen zeitlich begrenzt. Vielmehr wird das kollektive Gedächtnis genährt durch Texte, Bilder (Fotografien) und Praktiken. Individuen werden auf Gedächtnisinhalte eingeschworen und zu Trägern des kollektiven Gedächtnisses gemacht. Durch das kollektive Gedächtnis schaffen sich Institutionen und Körperschaften eine Identität (Selbst- und Weltbild). Erinnerungen werden durch Emotionen stabilisiert und sind darauf angelegt, lange Zeiträume zu überdauern.


Die Anschläge vom 11. September 2001 verdeutlichen eine Zeitenwende. Die beispiellose Dokumentation der Ereignisse beschränkt die Erinnerungen nicht mehr auf einzelne Kulturkreise, sondern nehmen globale Einflussnahme und sind Teil des transkulturellen kollektiven Gedächtnisses. Das Bild verdeutlicht anschaulich die Differenzierung zwischem dem individuellen und kollektiven Gedächtnisses: Alle sehen das Gleiche, aber jeder sieht etwas anderes.

Das kollektive Gedächtnis und der Raum


Das Bild zeigt mich Mitte der 90er Jahre vor einem Gebäude von Charles Moore in Berlin-Tegel, welches im Rahmen des Masterplanes für die IBA 1987 errichtet wurde. Moore war einer der Begründer und führenden Theoretiker der Postmoderne. Die Epoche ist bekannt für ihre intrinsische Motivation, Architektur für die breite Masse zugänglich machen zu wollen, also "schöne" Gebäude zu schaffen.



„Wenn Architekten weiterhin auf diesem Planeten nützliche Arbeit leisten sollen,
dann muss ihr eigentliches Anliegen die Schaffung „einprägsamer“ Orte sein [...].
Einen Ort zu schaffen heißt eine Bereich zu schaffen, der es den Menschen ermöglicht zu erkennen, wo sie sich befinden und darüber hinaus, wer sie sind.“  - Charles Moore

Einer dieser Orte ist für mich persönlich, innen wie außen, die Humboldt-Bibliothek in Berlin-Tegel von Charles Moore. Sie ist in der Tat einprägsam, das Spiel mit den Motiven der Renaissance macht sie verständlich. Der Innenraum erreicht es, an jedem Ort im Gebäude stets den angemessenen menschlichen Maßstab zu finden. Sie steht für die alte Welt, eine Welt, in der Begegnungsstätten im öffentlichen Raum soziale Milieus, die Keimzelle des kollektiven Gedächtnisses, generieren.

Die Souverinität und Strahlkraft wurde 2014 durch den Bau eines Pflegeheimes auf der wilden Heide entlang der Bibliotheksfassade gemindert.

„Vielmehr muss angenommen werden, dass die Einwohner dem, was wir den materiellen Aspekt der Stadt nennen, eine sehr ungleich starke Aufmerksamkeit schenken, dass aber die Mehrzahl zweifellos das Verschwinden einer bestimmten Straße, eines bestimmten Gebäudes, eines Hauses sehr viel stärker empfinden würde als die schwerwiegendsten nationalen, religiösen, politischen Ereignisse.“
- M. Halbwachs

Durch die physische soziale Isolation halten wir uns vermehrt in virtuellen Räumen auf. Gleichzeitig sind wir einer nicht enden wollenden Flut an Informationen ausgesetzt.

Es stellt sich also die Frage..
Brauchen wir physische Nähe/Bewegung im öffentlichen Raum zur Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses oder ist es nur eine Ansammlung von Information?
Besteht die Gefahr einer erinnerungslosen Gesellschaft?

In der folgenden Diskussionsrunde geht hervor, dass das Empfinden der Überinformation ein ernstes Problem darstellt. Am Beispiel Corona wird klar: Wir tragen seit einem Jahr Masken, wir haben uns gewöhnt. Doch wir haben schon vergessen, wie alles angefangen hat, die Diskussionsgrundlagen haben sich bereits verschoben.

Es lassen sich Analogien herstellen. Der physische Raum ist greifbarer und erinnerbarer als der virtuelle Raum. Der virtuelle Raum ist undefiniert, schier unendlich, er passiert zu schnell für eine ausgeprägte Erinnerungskultur. Wir müssen zurückkehren, so schnell wie möglich, die Schäden für unsere Gesellschaft und ihre Räume sind schon jetzt massiv, sie laufen in Gefahr irreversibel zu werden.

Quellen:
Prof. Dr. Maurice Halbwachs - Das kollektive Gedächtnis
https://www.qiez.de/app/uploads/2017/12/bcher-bcher-unsplash-4096x2731.jpeg
https://www.spektrum.de/frage/was-ist-das-kollektive-gedaechtnis/1486537
https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer_Turmbau_zu_Babel
https://de.wikipedia.org/wiki/Etemenanki
https://www.handelsblatt.com/images/eva-mendel/23914882/2-format2020.jpg
https://time.com/3449480/911-the-photographs-that-moved-them-most/
https://www.bz-berlin.de/data/uploads/2017/03/23017761_1488473157-1024x576.jpg
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