Hochschulseminar – Dichte und Nähe
 
"You Are Here" - Theaterinstallation von Dries Verhoeven
Christine Dössel, 24.8.2009

Young Directors Projekt


Salzburger Festspiele
Wir sind in die Welt gewürfelt und müssen spielen


Auszug aus dem Artikel vom 24. August 2009 von CHRISTINE DÖSSEL

… Umso lieber legt man sich bei Dries Verhoeven hin und folgt seinem eigenen Kopftheater. Der 33-jährige Niederländer hat für sein Projekt "You Are Here" die Hallenbühne auf der Perner-Insel zu einem Hotel mit 36 Zimmern umgebaut, es sind spartanische Holzzellen mit einer Spiegeldecke und einem einfachen Bett. Über 150 Quadratmeter erstreckt sich die ungewöhnliche Installation, ein Flur führt in Schneckenform an den Zimmern vorbei. Beim Einchecken in die Vorstellung muss jeder Zuschauer seinen Vornamen an- und seine Schuhe abgeben und bekommt dafür einen Zimmerschlüssel überreicht.
Kaum hat man es sich zu leiser Fahrstuhlmusik auf seiner Pritsche bequem gemacht und sich selbst in der Spiegeldecke einsam liegend betrachtet, wird ein Zettel durch den Türschlitz geschoben. Darauf stehen Fragen, die man schriftlich beantworten soll. Von wem hast du heute Post bekommen? Was hast du getan, was nicht geplant war? Wo in deiner Wohnung befinden sich die Taschentücher? Der Text, der später durch die Lautsprecheranlage in die Zimmer dringt, ein Text, in dem eine zärtliche Frauenstimme ein unbekanntes "Du" anspricht - "mich", denkt der Zuhörer -, wurde ad hoc aus all den Antworten auf diese Fragen zusammengebastelt, man erkennt sich darin wieder und erfährt gleichzeitig, was andere geantwortet haben – so puzzelt sich in der Imagination ein vages Bild zusammen, das jeden Einzelnen in den Nebenzimmern, all diese Unbekannten, mit einbezieht.
Ist dies erst nur ein rein gedanklich-abstrakter Vorgang, wird er alsbald bildlich konkretisiert, denn nun hebt sich die Spiegeldecke, und je weiter sie hochfährt, desto größer wird der Bildausschnitt, in dem man die anderen "Hotelgäste" aus der Vogelperspektive auf ihren Betten liegen sieht; erst nur die direkten Zimmernachbarn, schließlich das ganze Setting. Wie ein Setzkasten spiegelt sich die Hotel-Szenerie in der Decke, man sieht sich selber darin in einem Kästchen liegen, ein Fremder unter Fremden, und tut es schließlich der Spiegelkonstruktion gleich: Man öffnet den Fokus, macht den Blick auf, lässt die Anderen, das "You", in seine Gedankenwelt herein - ein frappierender Perspektivwechsel, der Innen- und Außenwelt verschränkt.
Wie Dries Verhoeven dem Zuschauer hier buchstäblich den Spiegel vorhält und ihn dabei nicht nur auf sich selber, sondern gerade auch auf den Mitmenschen wirft, ist so erhellend, wie es zauberisch und entspannend ist. Verhoevens Performer - man mag hier nicht von Schauspielern reden - haben daran allerdings ungleich weniger Anteil als die geniale Bühnenkonstruktion. Was die neun Akteure in dem Hotel so treiben - "Macarena" singen, über die Wände klettern, Zuckertassen austeilen, einen aus dem Bett holen und durch den Flur zu einer Süßspeisen- Kommunion führen -, bleibt nebensächlich in diesem grandiosen Gedankenspiegellabyrinth. Aber schön ist es, wenn sie einen fürsorglich zudecken und am Ende beim Vornamen rufen:
Man fühlt sich tatsächlich gemeint. CHRISTINE DÖSSEL

 

Video: "You Are Here"

 

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.193, Montag, den 24. August 2009 , Seite 12