Hochschulseminar – Horror vacui
 
Rimini-Protokoll
Celina Heitmann, 24.03.2019
This article focuses on a group of three artists offering special productions to their audience. The group members Helgard Haug, Stefan Kaegi and Daniel Wetzel form the team since the year 2000. With their performances they try to enable the people unusual perspectives on our reality. The following article presents three selected projects of Rimini Protokoll.



Die Künstlergruppe Rimini Protokoll besteht seit dem Jahr 2000 aus dem Autoren-Regie-Team um Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel. Ihre Arbeiten entstehen in den Bereichen Theater, Illustration, Film und Hörspiel. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Weiterentwicklung der Mittel des Theaters, um ihrem Publikum ungewöhnliche Sichtweisen auf die Wirklichkeit zu ermöglichen. Für ihre Inszenierungen hat das Team schon zahlreiche Preise erhalten. So wurde das Gesamtwerk von Rimini Protokoll 2011 beispielsweise mit dem Silbernen Löwen der 41. Theaterbiennale Venedig ausgezeichnet.
Im Folgenden werden drei ausgewählte Projekte vorgestellt.



DO´s and DONT`s - Eine Fahrt nach allen Regeln der Stadt
Die Stadt stellt ein riesiges Labor zur Beobachtung alltäglichen menschlichen Verhaltens dar und in diesem Labor gibt es Regeln. Es gibt do’s und don’ts. Was ist erlaubt und was tut man besser nicht? Was wird von mir verlangt und welche Freiheit habe ich? Was darf ich nicht mal denken? Wie wäre es ohne Regeln zu leben? Und welche Regeln brauchen wir in der Zukunft? Auf der Fahrt in einem besonderen LKW wird das System unserer urbanen Ordnung unter die Lupe genommen: Es geht um geschriebene und ungeschriebene Gesetze, um Verbote und Grauzonen, um Fehlverhalten und Konformität, sichtbare und unsichtbare Codes. Und nicht zuletzt um die Frage: Wer bestimmt eigentlich, woran wir uns zu halten haben?



Früher wurde der Transporter für Schweinehälften benutzt, jetzt ist der ehemenlige Kühltransporer ein rollendes Theater, das Platz für ca. 60 Leute bietet. In langen Reihen sitzt das Publikum seitlich zur Fahrtrichtung. Zumächst fühlt man sich wie im Kino, denn es ist dunkel und der Blick fällt auf Leinwände. Darauf zu sehen ist eine Liveschaltung in die Fahrerkabine, wo ein Kind neben dem Fahrer sitzt. Das Kind leitet den großstädtischen Laborversch und ist mittels Headset mit Fahrer und Publikum verbunden, sodass es auch möglich ist, dass es draußen neben dem LKW geht und gleichzeitung mit ihnen in Verbindung steht. Das Kind stellt sich Fragen wie: Welche Regeln brauchen wir fürs Zusammenleben und welche nicht? Und welche Freiheiten haben wir wirklich? Es sagt, es würde sich eine Welt wünschen, in der sich alle an diese Regeln halten.



Später kommt noch der Jugendliche dazu, der die Dinge trotzing und kritisch hinterfragt. Er würde gerne in einer Welt ganz ohne Regeln, ohne Richtig oder Falsch und ohne Kontrolle leben. Besser fände er ein Leben nach menschlichen Werten.
Rimimi Protokoll arbeitet hierbei wie in nahezu all ihren Stücken mit Laienschauspielern zusammen. Dazu kommen Audiokollagen, Videos und Chorgesänge. Besonders spannend wird es während der Fahrt immer dann, wenn Leinwände im Innenren des Lasters hochfahren und den Blick auf die vorbeiziehende Stadt freigeben.Hierbei können die Zuschauer zwar rausschauen, aber niemand kann durch die von Außen verspiegelten Scheiben hereinsehen.
Die Zuschauer werden angeregt, sich Gedanken über die Fragen des Zusammenlebens im urbanen Raum zu stellen und ihr eigenes Verhalten zu reflektieren. Weitere Themen der Fahrt sind Überwachung und Kontrolle, Wohnungsnot, Kriminalität und Ängste oder die City der Zukumft mit selbstfahrenden Autos. Do´s und Dot´s ermöglicht einen überraschend neuen Blick auf die Stadt, die man so gut zu kennen glaubt.



100% Stadt - Eine statistische Kettenreaktion
Hierbei gibt es eine Ansammlung von hundert Menschen, die nach fünf Kriterien genau eine Stadt abbilden, in der die Iszinierung aufgeführt wird. Es stellt sich also eine repräsentative Stichprobe auf einer großen Drehbühne zu immer neuen Gruppenbildern zusammen. Dies sind Gruppenbilder als flüchtige Portraits von Zugehörigkeit. So ergibt sich ein geometrischer Körper als Stimmenmeer auf 100m² Bühne.



Beispiel: 100% Dresden
Bei diesem Stück geht es vor allem um die Statistik einer Stadt, welche durch Menschen auf der Bühne abgebildet wird. Die Statistiken bekommen Gesichter. So kann sich Dresden auf einer Bühne durch 100 Menschen vertreten, die statistisch "korrekte" Aussagen machen kann. In einer mehrmonatigen Recherchekette werden 100 Bewohner Dresdens nach statistischen Kriterien ermittelt und als Repräsentanten auf die Bühne des Schauspielhauses gebracht. Anders als bei vielen anderen Projekten wird für "100 Prozent Dresden" nur ein einziger Mensch von den Regisseuren ausgewählt. Dieser sucht den nächsten Teilnehmer aus seinem Bekanntenkreis aus. Dies geschieht nach einem Raster aus statistischen Werten, wie Alter, Geschlecht, Nationalität, Wohnbezirk und Familienstand. Der Zweite sucht einen Weiteren, bis 100 Dresdner beisammen sind. Dabei steht jeder Einzelne für 5.300 Bewohner der Stadt.
Nachdem sich jeder Einzelne vorgestellt hat, beginnt die Aufführung. Dabei wird eine Abbildung des Bühnengeschehens in der Vogelperspektive an die Wand geworfen. Im weiteren Verlauf werden "statistische" Fragen an die 100 Dresdner gestellt. Diese formieren sich dann auf der Bühne zu immer wieder wechselnden Bildern von Zugehörigkeit. Fragen sind beispielsweise: Wer ist in Dresden geboren? Wer lebt in einem Plattenbau? Wer kennt jemanden, der obdachlos ist? Wer hat Schwierigkeiten große Entscheidungen zu treffen?



Ein anderes Mal steht die Menschengruppe am Rande der Bühne und es werden Fakten ausgesprochen. Die repräsentativen Bewohner Desdens, auf die diese Fakten zutreffen, stellen sich anschließend in die Mitte der Bühne. Diese Fakten sind u.a.: Wir haben Schulden! Wir fahren regelmäßig schwarz! Wir haben schon mal Geister gesehen! Oder auch: Wir haben Krebs!
Untermalt wird die Vorstellung von Klängen und Musik.
Am Ende jeder Vorstellung verabschieden sich die Darsteller vom Publikum und die Bühne verdunkelt sich.



Remote X
In Remote X macht sicht eine Gruppe von 50 Menschen, ausgestattet mit Kopfhörern, auf den Weg durch die Stadt. Geleitet werden sie hierbei von einer künstlichen Stimme. Die Begegnung mit der Künstlichen Intelligenz verleitet die Gruppe zum kollektiven Selbstversuch. Die Menschen beobachten sich gegenseitig, entschieden sich individuell aber sind doch stets Teil der Gruppe. Während die Künstliche Intelligenz menschliches Verhalten aus der Distanz beobachtet, kommt es den Teilnehmern so vor, als würde die Stimme mit jedem Schritt vertrauter werden. Unterwegs vertonen Aufnahmen und filmische Kompositionen die urbane Landschaft, sodass sich die Reise durch die Stadt wie ein kollektiver Film anfühlt. Das Projekt bewegt sich als mobiles Forschungslabor in verschiedenen Städten.



Der Audiowalk wurde bisher in 40 Städten weltweit realisiert. Jede neue ortsspezifische Version baut auf der Dramaturgie der vorangegangenen Stadt auf, sucht sich hierbei neue Orte und setzt so das Stück fort. 100 Minuten lang kann jeder Teilnehmer auf seine individuellen Reise durch die Stadt gehen. Themen wie die Vorhersagbarkeit menschlichen Handelns, Big Data, künstliche Intelligenz oder die fortschreitende Verschränkung von Mensch und Maschine sind nur einiger der Themen, die auf dem Walk angesprochen werden. Die Teilnehmer bekommen Fragen gestellt wie z.B. Wer kontrolliert wen? Und wem folgen wir, wenn Algorithmen zu uns sprechen? Wie können wir gemeinsam Entscheidungen treffen? Die Route macht die Stadt zum Abenteuerspielplatz. So ermöglicht auch diese Inszenierung von Rimini Protokoll einen völlig neuen Blick auf die Stadt.



Text- und Bildquellen:
https://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/remote-x
https://www.rimini-protokoll.de/website/de/projects/100-stadt-7-1
https://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/do-s-don-ts
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a8/Portrait_Rimini_Protokoll_%C2%A9_David_von_Becker.jpg
https://www.theaterbremen.de/de_DE/spielplan/remote-bremen-2017.1128981
https://www.theaterbremen.de/de_DE/spielplan/remote-bremen-2017.1128981#fotos
https://www.weser-kurier.de/bremen/bremen-kultur_artikel,-im-laufschritt-kunst-_arid,1660640.html