Hochschulseminar – Lob der Parzelle
 
INTERVIEW - Zehn Fragen an Ulla Luther
Viktoria Frick, Anna Wochnik, Wojtek Herder, Oliver Wojnowski, Timo Novak, 08.05.2011

 

Dipl.- Ing. Ulla Luther, Staatsrätin a.D.

Einige Daten zu unserer Interview-Partnerin:
Studium der Architektur an der T. U. Hannover, Städtebaureferendariat
Tätigkeit als Planerin in unterschiedlichen Positionen in der Stadtverwaltung von Hannover, Hamburg, Lübeck und Berlin
Staatssekretärin für Bau, Verkehr und Stadtentwicklung in der Hansestadt Bremen
Geschäftsführerin der BLEG (Berliner Landesentwicklungsgesellschaft)
Gastprofessorin im Lehrgebiet Stadtmanagement an der BTU Cottbus
Partnerin im Büro H.O. Dieter Schoppe+Partner, Freiraumplanung, Hamburg
Heute freiberuflich tätige Planerin, Gutachterin und Moderatorin
Preisrichterin/Beraterin im Bereich Städtebau und Architektur, Landschaftsplanung

Teilnahme an Wettbewerben in Kooperation mit Architekten und Landschaftsplanern und Mitglied in der DASL, im Beirat Stiftung Baukultur, Förderverein Baukultur, Gestaltungsrat Potsdam(Vorsitzende),

Advisory Board am Institut für Europäische Urbanistik Bauhaus Universität Weimar und in der Arch.- Kammer Berlin.


10 Fragen zum Thema Parzelle, die Parzelle als kleinstes Struktur-Element und wichtigstes Ordnungselement der Stadt

 

Was bedeutet für Sie die Parzelle als Gliederungselement der Stadt?

(grübel) Das bedeutet in ganz besonderem Maße die Körnung der Stadt – die Feingliedrigkeit, die Differenziertheit von Stadt. Die Möglichkeit des individuellen Bauens und ganz maßgeblich auch die Möglichkeit des Bauherren als Bauender in der Stadt, es müssen nicht immer Investoren sein. Wir haben uns ja inzwischen so daran gewöhnt investorenorientiert zu denken, wir kommen gar nicht mehr darauf, dass auch ein einzelner Mensch der Geld hat sich gerne in der Stadt wie früher ein Zinshaus, ein eigenes Wohnhaus, oder ein Geschäftshaus baut. Wir haben ein Stück weit verlernt Stolz zu sein in der Stadt etwas beitragen zu können, was wir selber bestimmen und die Verantwortung dafür zu tragen. Oder einfach nur bauen als Alterssicherung. Es sind so viele Elemente des städtischen, europäischen Bauens verloren gegangen: Das Denken in Maßstäben, Wohnhäuser in Geschossen zu sehen mit Eingangselementen, oder das Haus in der Straße, in der wir eigentlich nur die Fassade sehen. Wichtig ist, dass wir nicht darüber jammern, sondern es registrieren, wahrnehmen und dann überlegen ob es richtig ist diese Dinge zu verfolgen oder ob es eine vergangene Zeit ist.
Aber die Parzelle ist ein wesentliches Element der Körnung und der Ablesbarkeit von Geschichte in der Stadt, also ganz wesentlich. Mit der Parzelle hat sich auch immer Geschichte fortgetragen. Über die Parzelle kann man Eigentumsverhältnisse, Geschichte der Häuser und der Familien, die dort gelebt haben, in den Grundbüchern nachvollziehen und das erzählt etwas über Stadt. Diese beiden Elemente finde ich ganz wichtig.

 

Welche Bedeutung hatte das Thema der Parzellenbildung in Ihrer bisherigen Arbeit?

Die hat sie zunehmend gewonnen und hat in der letzten Zeit, eigentlich in den letzten zehn Jahren ganz intensiv zugenommen. Anfänglich haben wir bei der kritischen Rekonstruktion sehr viel stärker auf den Stadtgrundriss, auf die Straßen und den öffentlichen Raum geguckt, nicht so sehr auf die Größenordnung, was aber auch eng mit den Straßen und Räumen verbunden war. Die Vielseitigkeit der angrenzenden Bebauung, das Gesicht zu den Straßenzügen haben wir viel zu wenig bedacht, muss ich sagen. Dieter Hoffmann-Axthelm hat darüber ja schon lange geschrieben. Aber ich würde sagen, dass wir in der Berliner Verwaltung und auch Josef Paul Kleihues(1), die mit der kritischen Rekonstruktion ganz intensiv gearbeitet haben, das nicht genügend scharf bedacht haben. Dies ist uns erst nach und nach klar geworden. Mir ist das in den letzten 15 Jahren ganz besonders aufgefallen, das ist ein ganz entscheidendes Thema. Ja, ich denke, da wurde mir ganz deutlich, wie wichtig es ist, wenn ich kritische Rekonstruktion als eine Baumethode einfordere, einen methodischen Ansatz für eine städtische Entwicklung, dann muss ich auch in Parzellen denken.
Student: Das ist interessant. Wir haben uns im Studium mit Dieter Hoffmann-Axthelm beschäftigt, wir dachten, der historische Stadtgrundriss hat im Zusammenhang mit dem Potsdamer Platz explizit dazugehört?
Luther: Es hat ein Stück weit dazu gehört, aber es ist ja nicht in den Verkaufsstrukturen mit verankert worden, sonst wäre ja nicht das entstanden, was jetzt entstanden ist: Der Block ist die Parzelle. Das ist der Fehler dieses Städtebaus und das macht ihn dann auch aus, es gibt dann genügend Argumente es anzufeinden, die Buntheit und die Vielfalt fehlen einfach genau wie das großzügige städtische Haus. Es ist ein grobes sehr mechanisches Konstrukt geworden, ein Hybrid. Als das fertig war, war mir klar – das war falsch. Da haben wir neben der Tatsache der Mall, gegen die wir uns, Hans Stimmann, die Architekten Hilmer+Sattler (2) und ich, massiv gewehrt haben. Wir waren empört als unser Senator dieses mit den Bauherren zusammen durchgedrückt hat, denn das konterkarierte den Städtebau total. In den Verkaufsverhandlungen haben wir viel zu wenig darauf geachtet, dass wir diese Blöcke teilen müssen. Es ist ja auch eine dreigeschossige, zusammenhängende Tiefgarage im Untergeschoss.
Eigentlich ist dieser Kampf um die europäische Stadt erst am Potsdamer Platz entstanden, es hat sich extrem hochgeschaukelt, war aber auch der erste Versuch mit vielen Fehlern. Unter dem muss man das einfach einordnen. Wir haben zwar die öffentlichen Räume und den Block wieder eingeführt, haben aber weder die Parzelle, noch die Fassadenarchitekturen, noch den einzelnen Bauherrn protegiert. Wir waren froh, dass wir nachträglich noch den Wohnungsbau reingedrückt haben. Das ging nur indem wir die GFZ erhöht haben von 4,3 auf 5,4 - sonst hätten die Bauherren das nicht gemacht. Und im Nachhinein, als alles fertig war und lief, haben sie gesagt: Warum habt ihr uns nicht noch viel mehr Wohnungsbau raufgedrückt, das wäre noch viel lebendiger geworden und viel besser. Dies hätte dann aber andere Konzeptionen erfordert.

Und das finde ich total spannend, dass man es über diese Art von Ansätzen – theoretischen Ansätzen – bis zum Schluss durchdenken muss. Da war Dieter Hoffmann-Axthelm sicherlich ein Stück weiter. Ich will jetzt nicht unterstellen, dass Hans Stimmann das nicht auch gewusst hat, aber er hat es nicht mehr mit eigener Kraft eingefordert und durchgesetzt. Dann hätten wir es, glaube ich, schon frühzeitiger durchgesetzt. Unser anfänglicher Kampf war eher für den Straßengrundriss und den Wohnungsbau, den gehobenen Wohnungsbau in der Stadt.

 

Sehen Sie einen gewandelten Blick auf das Thema der Parzelle in der jüngeren Entwicklung der Stadtplanung?

Ich denke ja. Also, ich war erst kürzlich in einem großen Preisgericht, sehr interessant übrigens, in Hamburg Altona. Der erste Preisträger war André Portier.
Da ich ihn gut kenne, habe ich ihn angerufen und gesagt, wie toll ich das Entwickelte finde. Eigentlich habe ich ihn nur als Architekten gekannt und ich bin ganz erstaunt, dass er so einen qualifizierten Städtebau macht. Er hat die Parzelle wieder eingebracht als ein jüngerer Architekt, der es ein Stück kapiert hat. – Fabelhaft!

Das Thema kritische Rekonstruktion wird von den Hamburgern immer etwas mit spitzen Fingern angefasst, zumindest in der Verwaltung, sie sagen, das sind Berliner und wir nicht. Wir wollen die Berliner Schule nicht. André Portier hat das Thema Parzelle und einzelne kleine Identitäten von Quartieren und öffentlichen Plätzen sehr schön gelöst, dadurch hat er das Preisgericht überzeugt. Das fand ich sehr bemerkenswert. - Das war zum Beispiel so ein entscheidender neuer Schritt in Richtung Parzelle zu denken.

Welche Bedeutung hat das Thema der Parzelle für die zukünftige Stadtentwicklung?
Wenn wir die Stadt beleben und als eine Stadt der Bürger, der selbstbewussten Bürger, sehen wollen hat das Thema eine maßgebliche Bedeutung. Es zeigt sich ja schon in Teilen, dass die Bürger einen Anspruch auf ihre Stadt artikulieren und sie nicht nur den Investoren und dem vagabundierendem Weltkapital überlassen wollen. Wir müssen politisch darauf reagieren, es wieder einführen und vor allen Dingen, und das ist das größte Problem, planungsrechtlich verankern solange wir an dieser Stelle kein Instrument haben, um dieses festschreiben zu können. Das können wir nämlich bislang nicht. Bislang können wir die Parzelle nur einfordern, da wo wir städtischen Grundbesitz haben. Aber, da wir in der Zeit des Neoliberalismus als Stadtkommunen noch geneigt waren sehr häufig Grundbesitz zu veräußern und nicht das zu machen, was noch unsere Vorväter sehr sorgfältig gemacht haben, nämlich auch Land in den Städten zu besitzen und zu halten, um über die sozialen Fragen entsprechend auch verfügbare Flächen zu haben und dann Lösungen anbieten zu können. Über den eigenen Grundbesitz sind wir gehalten dieses planungsrechtlich einzubringen und da sehe ich bislang noch keine Initiative, muss ich gestehen. Da hab ich im Moment kein Vertrauen in unseren Senator und sehe auch nicht, dass es irgendwo in der Politik ein Thema ist. Das müssten die Länder an den Bund herantragen, hier müssen die Stadtpolitiker aktiv werden. Das wäre ein wichtiges Thema!
Student: Wie würde so eine rechtliche Festlegung aussehen?
Luther: Man erstellt einen Bebauungsplan, das ist ja Ortssatzung und sagt auf diesem Grund und Boden machen wir die Größenordnung an Parzellen fest. Weiß nicht, ob sie das Beispiel
der Townhouses hier in Berlin kennen?
Student: Geht das hier nicht durch die Presse, da haben sich doch so viele Leute beschwert?
Luther: Nein, das ist ein anderes: Hans Stimmann hat ein Buch machen wollen über Wohnungsbau, da haben sich junge Architekten gegen verwahrt. Die haben gesagt, wir sind von Herrn Stimmann nie gefördert worden und deswegen wollen wir auch nicht in seinem Buch verankert werden. Nein, das ist ein anderes Thema.
Diese Townhouses die ich meine sind alle schon bezogen und fertig am Außenministerium. Das war das erste Beispiel wo man wieder das gemacht hat, was ich vorhin schon gesagt habe, einzelne Leute durften bauen, sie traten als Bauherrn auf und nicht als Investoren. Das war Grund und Boden der Bundesrepublik Deutschland, der ist an Berlin verkauft worden und Berlin hat dadurch, dass es den Grund und Boden besaß, auferlegt immer nur einen Bauherren pro Parzelle bauen zu lassen. Die Parzellen waren vorher durch einen Parzellenplan festgelegt worden, dies konnte aber nicht im Bebauungsplan verankert werden. Im Bebauungsplan waren die überbaubaren Flächen festgesetzt, aber da der Grund und Boden über die Stadt Berlin vermarktet wurde, konnte man damit auch sozusagen Rechte übertragen und sagen, nur ein Bauherr pro Parzelle und jede Parzelle darf maximal 8,50 m breit sein. Daraus ist dann ein eigener Typus entstanden und da ist die Architektur weniger wichtig, so haben wir es auch immer kommuniziert, wenn über dieses Projekt geredet wurde. Das wichtigste ist, dort haben wieder Menschen gebaut und sich zur Stadt bekannt. Das sind Stadtbürger, die ihr eigenes Haus auf ihrem Grund und Boden gebaut haben, dort überwiegend wohnen oder ihr Büro haben und wohnen. Und was weiß ich, die Oma oben wohnt und unten wohnen die jungen Leute. Es ist ein ganz buntes Gemisch von unterschiedlichsten Architekturen daraus entstanden. Das kritisieren auch die meisten. Da ist auch was dran. Aber wenn man diese Art parzellären Städtebaus betreibt, dies ist ja ein Element der Bautypologie des 19. oder 20. Jahrhunderts, muss man auch ein Stück weit darüber nachdenken, wie man da eine anspruchsvolle Gestaltung hinkriegt. Hier müssen wir auch über Gestaltungssatzungen nachdenken, wie man das in England kennt. In Berlin gibt es auch ein sehr schönes Projekt, die Bötzow-Brauerei, da ist alles von einem Architekten bebaut, das ganze Projekt, auch in einzelnen Parzellen. Das ist dann auch schon etwas ruhiger und architektonisch vielleicht eleganter.

 



Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen partizipativen Elementen und dem Thema der Parzelle?
Ja deutlich. – Immer davon ausgehend, dass man über Parzellen redet, die eine überschaubare Größe haben. Es kann ja auch ein ganzes Stadtquartier eine Parzelle sein. Aber je kleiner der Maßstab der Parzelle ist, desto mehr Eigentümer reden mit und natürlich gibt es darüber auch ein Engagement für die Stadt. Die Bürger setzen sich für das Gemeinwohl und das Allgemeinwohl wieder ein. Natürlich sind sie einerseits an dem interessiert, was sie selber realisieren können, aber auf diese Weise entsteht natürlich eine Auseinandersetzung mit der Allgemeinheit. Also insofern klar – ganz deutlich ein Element der Partizipation. Ja, ja, ja: Ich bin daran interessiert was vor meiner Haustür passiert, was in meinem Quartier passiert. Ich bin daran interessiert was die Politik mit der Stadt macht.
Vielleicht ist das idealistisch gedacht, aber ich denke schon. Also die Beispiele, die ich erlebe bei denen jetzt durch Neubürger und durch Bürger, die einfach an der Stadt interessiert sind, das ist Prenzlauer Berg, hier sind junge Eltern hingezogen, die sind natürlich ganz maßgeblich daran interessiert was mit ihren Straßen passiert und das sind jetzt zum größten Teil Eigentumswohnungen geworden. Also die haben sich jetzt auch verankert über Eigentum in der Stadt, die sind natürlich daran interessiert dass in ihrer Nachbarschaft eine Schule entsteht, ein anständiger Kindergarten, das Kino bleibt, kommunale Einrichtungen existieren und die Straßen anständig aussehen. Das ist natürlich wieder ein ganz anderes Engagement in der Stadt. Und das sehen sie den Stadtquartieren auch an, plötzlich werden die Ladezonen wieder benutzt, es entstehen Lokale und Kneipen. Hier entsteht ganz individuelle Kultur, kleine Schneidereien. Es ist ganz erstaunlich, wie viel Einzelhandel da jetzt entsteht, das ist sehr spannend.

Welchen Stellenwert hat das Prozesshafte für Sie in der Architektur und gibt es einen Zusammenhang mit der Eigentumsstruktur?
(Pause) Das ist eine schwierige Frage. – Wenn sie das so verstehen, dass Prozesse sich wiederholen, beziehungsweise durch Prozesse in der Architektur und Stadtplanung immer wieder unterschiedliche Leitbilder und Theorien herauskristallisieren, dann ist das Prozessuale der Architektur sicherlich immer wieder generationenbezogen. Wenn wir mal die letzten 150 Jahre der Stadtplanung betrachten und man das zurück verfolgt, dann sind wir immer großmaßstäblicher, immer größer geworden und damit immer anonymer und weniger partizipatorisch. Aber ich glaube wir erleben gerade einen großen Umschwung-Prozess, wir sehen das hat eine Endlichkeit.

Das sind Städte die uns eigentlich gar nicht so gefallen, die haben auch nichts mit Europa zu tun. Ich glaube, da spielen auch die eigenen Kulturkreise rein. Wir sind sehr dominiert vom amerikanischen Städtebau und diesem internationalen Kapital, das überall daran interessiert ist relativ schnell eine Umsetzung zu erzielen. Da ist niemand daran interessiert die Identität einer Stadt wie Amsterdam, Berlin oder Bremen weiter zu entwickeln. Es muss in kurzer Zeit umgesetzt werden, realisiert sein und Geld machen, dann wird weitergezogen und was aus der Stadt wird, ist denen eigentlich egal. Das vollzieht sich inzwischen so rasant, ich glaube das hier inzwischen auch Widersprüche entstehen, die Bürger nehmen das wahr und sagen: „Nein, so wollen wir nicht leben!“ Dies hat insbesondere mit den Menschen zu tun, die weltweit agieren und sich in Städte zurückziehen. Die sagen, das ist meine Stadt ich will wieder in Bremen, Hamburg oder Berlin leben, da fühle ich mich wohl. Hier ist mein Kiez, hier ist mein Ort.
Ich weiß nicht, ob das illusorisch ist oder ob da das große Kapital nicht ganz andere Mächte hat, vielleicht sind wir da verzweifelte Kämpfer. Die Stadtplanung geht in hohem Maße leider aus den Disziplinen, die wir alle studiert haben, stark verloren. Das muss man so deutlich sagen. In hohem Maße ist das doch in den Kapitalmärkten verankert, wir sind ja eigentlich Dienstleister für den Kapitalmarkt und wenn wir da nicht politischen Druck ausüben, so wie mit Stuttgart 21 (3), sicherlich können wir nicht alles verweigern, aber die Bürger müssen sich dessen bewusst werden. Wir müssen auch mal sagen, es ist unsere Stadt und hier kann nicht jeder was machen, der glaubt was machen zu wollen. Wenn dauernd Investoren von außen kommen und uns diese großen Projekte reindrücken wollen, das funktioniert nicht. Da macht ein kleines Pflänzchen wie Stuttgart 21 ein bisschen Mut.
Ich war gerade in Vietnam, wenn man da sieht, wie das über die Städte hinweg gefällt wird, Hanoi und Singapur, was da entsteht, das ist so gigantisch und noch mal eine ganz andere Kategorie. So großmaßstäblich und ich frage mich, wo die Menschen da später eigentlich alle ‘mal bleiben. Was bauen wir da weltweit oder was bauen sich Menschen weltweit für Städte und vergessen ihre ganze Geschichte, es ist schon erschreckend! Und da sind wir hier in Europa noch gut dran, wir haben, Gott sei Dank, hier noch nicht so einen Riesendruck, was da passiert ist ja erschreckend. Und da ist nicht Paris, London oder Berlin das Modell, oder die kritische Rekonstruktion oder Parzelle. Nein, das Vorbild ist Singapur, Hongkong und Größenordnungen, die wir uns auch gar nicht mehr vorstellen können. Da ist schon die Frage, ob man da noch beraten kann, es wäre schon gut, wenn dieses Thema mal anstoßen würden und darüber nachdenken. Da darf man die Hoffnung nicht aufgeben. - Allerdings ist da das Kind schon ein Stück weit in den Brunnen gefallen, da geht vieles bei verloren. Aber man merkt nach einer gewissen Zeit, das kann es nicht sein, so ist nicht die Stadt die wir wollen. Dort sind hohe Konzentrationsprozesse und das sind alles Städte anderer Größenordnungen, die kennen wir hier in Europa gar nicht, außer vielleicht in Paris oder London. Ein bisschen waage meine Aussagen, ich bin ein kämpferischer Typ, immer ein mit Hoffnung beseelter Mensch und immer überzeugt dass unsere Stadtmodelle durch ihre Lebensart und Lebensform überzeugen können und nicht andere Stadtmodelle. Aber, ob es nicht schon zu spät ist, kann ich nicht sagen, da müsste ich viel welterfahrener sein. Ich kann nur bestimmte Beobachtungen machen und sehe diese Megacities, da ist ja auch Hanoi ein Klacks gegen. Wenn man Städte wie Mexico City, Buenos Aires oder Städte in Afrika sieht, mit ihren Townships und man das Gefühl hat die werden gar nicht mehr regiert. Die können gar nicht mehr regiert werden, weil sie um 30 Millionen Einwohner groß sind. Das ist gigantisch!

Hat das Thema „Selbstbildungsprozess" in der Stadt eine Relevanz zur Architektur und zum Städtebau?
Hat das Thema Selbstbildungsprozess, also mein Selbstbildungsprozess oder wie muss ich die Frage verstehen? - Die verstehe ich nicht ganz.
Das ist die Eigenschaft aus sich heraus auf Bedürfnisse zu reagieren, d.h. Nutzungswandel, Nutzungserweiterung, Ergänzung im Quartier aus den strukturellen Gegebenheiten des städtischen Gefüges – Entwicklungsmöglichkeit.
Ich denke schon, aber das haben wir eben ein Stück weit besprochen, wenn Menschen erfahren dass sie selber an der Entwicklung ihres Stadtteils teilhaben dürfen, entsteht auch eine Verantwortung für den Stadtteil. Ich denke schon, das haben auch all die Sanierungsmaßnahmen und Sozialplanungsprojekte gezeigt. Das ist ein Thema, welches wir über die Zeit wieder ein Stück verloren haben. Wir sind ja in den 1990ern dann sehr stark wieder auf die Architektur gegangen, ich bin so ein Kind der Sanierungsplanung oder eine Frau der Sanierungsplanung. Wir haben in den 1970ern ja sehr stark mit Soziologen zusammen gearbeitet, ich fand das war erfolgreich. Das hat natürlich zur Gentrifizierung geführt, dies müssen wir uns auch eingestehen, aber es hat auch wieder zu einer Vitalisierung der Stadt, nicht nur im baulichen, sonder im geistlich-, intellektuellen Sinne geführt.

Was bedeutet Ihnen das Thema „Variabilität“ und „Nische“ für die Bewertung von alter und neuer Stadt?
(grübelt) Die alte Stadt lässt dieses natürlich deutlich mehr zu, als die neue Stadt. Wenn wir diese beiden Begriffe nehmen: Variabilität und Nische, ergibt sie sich in der alten Stadt häufiger, als in der neuen Stadt. Die neue Stadt lässt das wachsen, das aufeinander eingehen und das über Jahrhunderte entstehen von Strukturen nicht zu. In unserer Zeit entsteht unter dem ökonomischen Druck von Investoren kein Raum für Nischen, die sich möglicherweise auf Flächen entwickeln könnten, die nicht durchgeplant sind oder wo man erst mal wartet und sagt, da kann noch was entstehen, oder da hat sich eine Nutzung verändert. Nein, das ist deutlich ein Thema der alten Stadt und weniger der neuen Stadt. Das ist ein Verlust, dass wir so eng und so stark auf die Fläche bezogen planen um alles auszunutzen. Wenn ich eine eigene Parzelle habe, überlege ich mir manchmal doch vielleicht nicht alles auszunutzen, sondern erst mal das zu bebauen, was ich mir leisten kann und dann entsteht etwas – nach und nach. Wenn aber ein Investor baut, möchte der natürlich das Maximum, um möglichst alles Geld ‘raus zupressen was aus diesem Grundstück ‘raus zupressen ist. Das ist der Unterschied.

Wenn wir hier nicht versuchen rechtlich und gesetzlich zu tun, was in der Geschichte erfolgreich war, nämlich parzellär zu denken, den Bauherren zu denken, wird sich das kaum ändern. Ich bin nicht sicher, ob wir das überhaupt können. In einem Interview in Potsdam habe ich das auch schon mal gesagt. Das verhält sich ein bisschen wie in der textilen Konfektion. Früher bin ich mit meiner Mutter zur Schneiderin gegangen dort wurden Stoffe und Modelle ausgesucht, wir konnten uns vorstellen, dass es gut aussehen könnte. Die Schneiderin hat uns beraten, sie kannte die Stoffe und Farben, es waren ganz unterschiedliche Stoffe. Dies ist inzwischen im textilen Bereich auch völlig verloren gegangen. Allerdings fängt es gerade wieder ein Stück weit zu laufen an. Hier in Berlin betreiben einige junge Frauen kleine Schneiderstudios. Inzwischen ist das Selber-Schneidern ähnlich teuer, wie wenn wir teure Konfektionen kaufen. So hat man ein individuelles Kleidungsteil und setzte sich von der Massenproduktion ab. Das gleiche gilt natürlich auch im Hausbau. Und darauf will ich hinaus: Gibt es auch noch Leute die selber wissen was sie wollen? Die sozusagen beim Ausarbeiten die Geduld haben auf etwas zu warten, das ich dreimal anprobieren muss, das geändert werden muss, ich muss da dreimal hinfahren und kann mich drauf freuen dann ein Haus zu haben. Heute ist es doch so, man geht mit einem Immobilienhändler irgendwo hin, der sagt dass die Wohnung frei steht und morgen bezogen werden kann. Einfach mal warten? Wir sind so schnell geworden in dem, was wir erwarten, was wir in unserem Leben realisieren wollen. Vielleicht ist das ein Thema der Entschleunigung, die bedingt angenommen wird. Ich bin da nicht sicher, ist das nicht ein großer Verlust von Kultur, dass wir dies gar nicht mehr beherrschen?
Student: Das stimmt, da geht sehr viel verloren.
Luther: Also zu wissen, wie ich mein Haus gestalten will, wie komm ich in mein Haus rein, welchen Flur will ich haben, welche Küche und wenn ich das vorgegeben kriege, dann nehme ich das so.
Student: Traurig, eigentlich sollte uns das auszeichnen, wie wir unser Haus gestalten. Das sagt etwas über uns aus.
Luther: Ja, aber möglicherweise war das Früher viel entscheidender, sozusagen die Adresse und das Wohnen als heute. Also klar, ich war erfreut und erstaunt wie die Leute wohnen oder sich einrichten, aber früher hatte das eine viel größere Bedeutung. Heute ziehen wir öfter um, es ist alles viel schnelllebiger. Also wenn zwei, drei Generationen im gleichen Haus wohnen über Jahrhunderte, das gibt es doch fast gar nicht mehr.
Student: Aber das wäre vielleicht auch mit der Parzelle möglich, wenn das wieder kleinere Einheiten wären, würde es vielleicht auch wieder zu solchen Situationen kommen?
Luther: Das widerspricht aber unserem ganzen gesellschaftlichen Leben. Wir leben länger, wir bewegen uns auf dem Globus, da kommt ganz viel anderes philosophisches hinzu, was man bedenken muss. Da bin ich auch immer hin und her gerissen und denke: Nimmst du das alles richtig war?! Und ist das nicht ein Traum?! Und träumt man sich in eine Zeit hinein, die so nicht mehr existiert. Sie existiert so gar nicht mehr und trotzdem gibt es, egal ob ich da jetzt 20, 30 oder 10 Jahre darin wohne, den Anspruch der Kleinteiligkeit, der Individualität. Und das macht Europa als Stadt und Stadttypologie aus. Noch immer – wir haben überschaubare Einheiten und wohnen in Strukturen die einen als Person auch respektieren. Das klingt so etwas hochtragend, aber ... das kann man vielleicht auch in einem Mietshaus. Ja, wie gesagt immer hin und her. Auf der einen Seite, auf der anderen Seite – aber als bekennender Städter der gerne, je älter ich werde, wahrnimmt das es gut ist, wenn man sein Grundstück hat auf dem man lebt. Dies gibt einem auch eine gewisse Sicherheit. Da verhält man sich auch anders, als wenn man immer abhängig von einem Vermieter ist. Auch das erzeugt eine andere Haltung, innerhalb der Stadt und des Stadtgefüges.

Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen den ökonomischen Bedingungen der Stadtentwicklung und dem Thema Parzelle?
Ja, das haben wir ja mehrfach schon angesprochen, das ist ja indirekt gesagt worden, die ökonomischen Bedingungen sind eben weltweite Bedingungen, es wird weltweit agiert, aufgekauft und verkauft. Gleichzeitig haben aber auch die Kommunen das Prinzip des parzellären Denkens verlernt. Die sind durch die schwächere Konjunktur in Europa generell sehr investorenanfällig geworden, weil sie sich auch als Politiker beweisen müssen. Stadtentwicklung bedeutet immer Fortschritt und nicht das festhalten an Strukturen. Da fängt aber auch ein verändertes Denken an.
Das hat natürlich was mit ökonomischen Theorien zu tun, da bin ich aber auch nicht fit genug, muss ich ihnen sagen, also zu wissen ob das richtig ist, dass man sich nicht dauernd weiterentwickeln muss, und es immer größer und weiter gehen muss und das Stillstand = Niedergang ist, das wird ökonomisch dauernd vermittelt, das glaub ich nicht. Es gibt durchaus kleinere Länder im Randbereich von Europa, die über Jahrhunderte keine großen Entwicklungen gehabt haben und keine großen Kriege geführt haben, in denen man aber, wie in Dänemark, Finnland, Schweden oder Norwegen, leben kann und sehr zufrieden ist. Und die das nicht brauchen, was hier an ökonomische Entwicklung über Zerstörung entstanden ist. Ja also, die Ökonomie ist natürlich ein ganz maßgeblicher Veränderungsansatz und bringt enorme Veränderung in Städte, das haben wir auch mit der Industrialisierung erlebt oder auch nach der Wende. Immer dann wenn politische und ökonomische Veränderung stattfinden reagieren Städte darauf, ganz deutlich.

Gibt es einen Ort, wo für Sie der Wert einer parzellierten Struktur am deutlichsten wird?
Ja, ich hab das Beispiel Außenministerium erwähnt, dieser Townhouse-Bereich. Der ist natürlich relativ klein. Sie können alle mehr oder weniger mittelalterlichen Städte Europas oder Deutschlands angucken, in denen die Typologie der Parzelle noch erhalten ist. Hier ist es allerdings auch schwierig die Städte wieder zu beleben, da müssen wir uns kluge Konzepte überlegen, wie wir das innerstädtische Leben in diesen parzelliert strukturierten Städten weiter entwickelt können. Wie man Blöcke öffnet, andere neue Lebensformen einbringt, ja aber auch sonst ist Europa noch voll von Städten die parzellär strukturiert sind. Die alten inneren Kerne oder auch die mittelgroßen Städte haben das alle noch im wesentlichen Maße und sie sind hoch beliebte Standorte des Wohnens und des Lebens, wenn sie sorgfältig saniert wurden und darüber zeichnet sich Europa auch aus. Also es gibt ja hinreißende Beispiele, nach der Wende ganz Ostdeutschland ist ein Beispiel für das Wiedergewinnen der parzellären Strukturen und Stadttypologien, von wunderbaren Stadtbildern in denen allerdings deutlich wird, dass man es ein Stück verlernt hat in diesen städtischen Strukturen zu leben. Das Leben in der Platte war für ostdeutsche Bewohner häufig das neuzeitliche Wohnen und das Alte, das war beschwerlich, eng und vermieft. Das müssen wir erst mal wieder adaptieren und lernen. Das ist auch ein Lernprozess und damit müssen wir klug umgehen. Es gibt hinreißend viele Beispiele, also Europa ist voll davon und lebt damit.

Student: Vielen Dank für dieses nette und offene und Gespräch.

(1) Als Leiter der Internationalen Bauausstellung 1987 (IBA in Berlin, west) formulierte er den Begriff „kritische Rekonstruktion“ als Zielsetzung für den städtebaulichen Neu-Anfang direkt nach dem Mauerfall (1989)
(2) Gewinner des Wettbewerbs und Verfasser des Rahmenplans zum Potsdamer Platz
(3) Konflikt um den Umbau des Bahnhofs und Bahnareals in Stuttgart