Hochschulseminar – Lob der Parzelle
 
INTERVIEW - Zehn Fragen an Elisabeth Merk
Evgenija Prib, Sammy Risehi, Kevin von Salzen, Januar 2011

Prof. Dr.(I) Elisabeth Merk

  Foto-Quelle: Landeshauptstadt München

Stadtbaurätin der Landeshauptstadt München


Geboren 1963 in Regensburg. Studium der Architektur in Deutschland und Italien. 1988-1994 freiberufliche Tätigkeit in Architektur/Denkmalpflege sowie Promotion und Staatsexamen in Florenz. 1995-1998 Gestaltung und Konzeption der neuen U-Bahnhöfe und Plätze in München. 1999-2000 verantwortlich für Stadtgestaltung, städtebauliche Denkmalpflege und Sonderprojekte in Regensburg. 2000-2006 Leiterin des Fachbereiches Stadtentwicklung und Stadtplanung der Stadt Halle/Saale. 2005-2007 Professorin für Städtebau und Stadtplanung an der Hochschule für Technik Stuttgart. Seit Mai 2007 Stadtbaurätin der Landeshauptstadt München. Seit Februar 2009 Honorarprofessorin der Hochschule für Technik in Stuttgart. Gast im Bau-und Verkehrsausschuss des Deutschen Städtetags. Mitglied des Bau-und Planungsausschusses des Bayerischen Städtetages. Mitglied im Unesco Network: conservation of modern architecture and integrated territorial urban conservation, Mitglied im Internationalen Rat für Denkmalpflege (ICOMOS) und Berufenes Mitglied in der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung. Mitglied im Kuratorium Nationale Stadtentwicklungspolitik.

 

 

1. Was bedeutet für Sie die Parzelle als Gliederungselement der Stadt?

Die Grundmuster der Parzellen bestimmen ganz wesentlich die Struktur, die Körnigkeit und die Maßstäblichkeit der Stadt. Somit bilden sie eine wichtige Grundlage auch für die Stadtgestalt. In ihnen sind wesentliche geschichtliche Spuren der Stadt versteinert enthalten und widersetzen sich oft hartnäckig jeglicher Veränderung. Auch Theodor Fischer hat bei der Münchner Stadterweiterung um 1900 die vorhandenen Grundstückszuschnitte z.T. berücksichtigt und war in der Umsetzung damit sehr erfolgreich. Bei Transformationen in der Stadt gilt es die vorhandenen Parzellenstrukturen zu analysieren und sich mit diesem Wissen mit der Frage der künftigen Grundstückszuschnitte auseinander zusetzen.

Für den Städtebau ist die Größe der Parzelle und ihre Anordnung ein wichtiges Element. Daher gilt es bei Sanierungsmaßnahmen vor allem innerhalb des Altstadtensembles darauf zu achten, dass aus drei Parzellen nicht eine einzige wird. Das Relief der Stadt wird erheblich davon geprägt. Andererseits müssen neue Wohnquartiere eine eigene Größenordnung entwickeln. Es gilt die Parzelle des 21.Jahrhundert zu erfinden!


2. Welche Bedeutung hat das Thema der Parzellenbildung in Ihrer bisherigen Arbeit?

Jede Stadt hat spezifische Parzellen. Die Parzellen der Altstadt haben jeweils ganz andere Dimensionen als die Parzellen der Gründerzeitviertel oder die der Siedlungen der 50er, 60er Jahre. Diese gilt es jeweils zu erkennen. Bei der Entwicklung von neuen Quartieren halte ich eine intensive Auseinandersetzung mit der Parzellenstruktur für unerlässlich.


3. Sehen Sie einen gewandelten Blick auf das Thema der Parzelle in der jüngeren Entwicklung der Stadtplanung?


Der Städtebau hat sich immer schon mit dem Thema der Parzelle befasst, ist allerdings vor allem in der Moderne zu ganz eigenen Interpretationen gekommen. Derzeit lässt sich aber ein großes Interesse an diesem Thema erkennen, wenn man z. B. an die Planungen für die Kasseler Unterneustadt denkt.
Ich halte es allerdings für unerlässlich, sich bei Neuplanungen mit der Frage auseinander zu setzen, wie die richtige Parzellenstruktur für die unterschiedlichen Orte einer Stadt aussieht. Für die Umsetzung dieser Ideen ist allerdings Voraussetzung, dass es die rechtlichen Rahmenbedingungen auch zulassen.

4. Welche Bedeutung hat das Thema der Parzelle für die zukünftige Stadtentwicklung?

Die Diskussion über stimmige Parzellenstrukturen für neue Quartiere bzw. Umgang mit vorhandenen Grundstückszuschnitten spielt eigentlich nur in Städten mit großem Veränderungsdruck und Wachstum eine Rolle. Insofern beschäftige ich mich in München sehr wohl damit und räume diesem Thema sowohl bei Veränderungen in der Innenstadt wie auch bei Stadterweiterungen z. B. in Freiham eine große Bedeutung ein.

5. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen partizipativen Elementen und dem Thema Parzelle?

Kleinparzellierte Baustrukturen mit Einzeleigentümern sind möglicherweise besser geeignet für partizipative Ansätze als große Wohnungseigentümergemeinschaften. Insofern könnte ein Zusammenhang bestehen.

6. Welchen Stellenwert hat das Prozesshafte für Sie in der Architektur und gibt es einen Zusammenhang mit der Eigentumsstruktur?

Architektur und vor allem Stadtplanung sind prozesshaft; die Prozesse des einzelnen Gebäudes oder des Quartiers werden ganz wesentlich von den Eigentümerstrukturen bestimmt.

7. Hat das Thema „Selbstbildungsprozess“ in der Stadt eine Relevanz zur Architektur und zum Städtebau?

Ich denke, Selbstbildungsprozesse sind ein grundlegendes Merkmal der Stadt und bestimmen ganz wesentlich ihre Kraft und ihre Begabung, ob im wirtschaftlichen, kulturellen oder im sozialen Bereich.


8. Was bedeutet Ihnen das Thema „Variabilität“ und „Nische“ für die Bewertung von alter und neuer Stadt?

Wir sollten die „Variabilität“ und die „Nischen“ alter Städte erkennen, daraus lernen und diese Elemente in zeitgemäßer Form auch in Neuplanungen integrieren.

9. Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen den ökonomischen Bedingungen der Stadtentwicklung und dem Thema: Parzelle?

Die ökonomische Situation einer Stadt bestimmt auch, ob es in großem Stil Parzellenstrukturen mit Einzeleigentümern geben kann.

10. Gibt es einen Ort, wo für Sie der Wert einer parzellierten Struktur am deutlichsten wird?

In der Stadt München lassen sich die einzelnen Epochen der Stadt, ihre Entwicklungsstufen noch an vielen Stellen auch an der Parzellenstruktur ablesen. Ein typisches Beispiel für diese Haltung ist als Sinnbild der europäischen Stadt Florenz. Allerdings gibt es gerade in Ländern wie Asien oder Lateinamerika durchaus städtebauliche Entwicklungen, die zunächst ohne parzellierte Strukturen auskommen. Man denke an die Vororte in Mexiko oder Brasilien, die zunächst ohne städtebauliche Planungen entstehen. Nichts desto trotz entwickeln sich jedoch auch diese Bereiche zu Quartieren, die ihre Maßstäblichkeit aus den Lebensumständen und -gewohnheiten der Bewohner rekrutieren.