Hochschulseminar – Sozialisation im (öffentlichen) Stadtraum
 
Stadtkids - Kinderleben zwischen Straße und Schule nach Jürgen Zinnecker
René Remmert, 12.12.2022

Jürgen Zinnecker (June 10, 1941- July 30, 2011) has been a professor of educational science with a focus on social education since the 1970s and has been a leader in childhood and youth research. He established theses about a new sociology of childhood, which question a domestication of childhood and the lack of public spaces in cities. Zinnecker takes a critical view of the domestication trend, since living in the city and using the streets offer opportunities for children to develop individually.
Jürgen Zinnecker, 2004
Jürgen Zinnecker auf der Sektionstagung, 2004


Jürgen Zinnecker (10.06.1941-30.07.2011) gilt als Professor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik seit den 1970er Jahren als führend in der Kindheits- und Jugendforschung. Dabei vertrat er Thesen über eine neue Soziologie der Kindheit, die eine Verhäuslichung der Kindheit und fehlenden, kindheitlichen Lebensraum auf der Straße in den Vordergrund stellen.



Ein Blick in die Vergangenheit
In seinem Buch „Stadtkids - Kinderleben zwischen Straße und Schule“, das 2001 beim Juventa Verlag in München erschienen ist, zieht Zinnecker Rückschlüsse aus Beobachtungen aus der Vergangenheit. Er stellt zunächst fest, dass sich zwischen 1900 und 1950 zwei Arten von Kindsein unterschieden haben, nämlich die Stadtkinder und Landkinder. Während Stadtkinder auf der einen Seite für Modernität standen, wurden ihnen auch eine Gefährdung und ein Verfall zugesprochen, Landkinder dagegen wurde kulturelle Rückständigkeit unterstellt, während sie sich aber auch an gute alte Traditionen hielten.
spielende Kinder 1950
auf der Straße spielende Kinder, ca. 1950

Bezogen auf eine Kindheit in der Stadt stellt Zinnecker dann weitere Entwicklungen fest und zwar, dass eine Kindheit vor allem an drei Orten stattfindet: der Straße, der Schule und der Familie. Die Familie stellt dabei einen privaten Ort dar, die Schule einen halb-öffentlichen Raum und lediglich die Straße bietet einen öffentlichen Raum an. 

Zinnecker betont jedoch, dass der Straße als Kindheitsraum eine erhebliche Bedeutung zukommt. Als Gegenmilieu zur Schule und Familie, bietet die Straße Möglichkeiten, sich einen Raum individuell anzueignen und eigene Mobilität zu entdecken. Eine städtische Nahwelt zählt somit zugleich als Lern- als auch als Lebensraum für Kinder.

spielende Kinder 1990
auf der Straße spielende Kinder, 24.03.1990 Leipzig

Verhäuslichung

Die Nutzung der Straße als Lern- und Lebensraum nimmt laut Zinnecker zunehmend ab. Dies erklärt er durch das Konzept der „Verhäuslichung“, was eine Entwicklungsrichtung ist, die die Kindheit im Zuge von Urbanisierung und Industrialisierung im 20.Jahrhundert prägt. Zunächst fand diese Verhäuslichung nur im Bürgertum statt, mittlerweile zieht sie sich durch alle sozialen Milieus. Es lässt sich feststellen, dass Handlungsräume von Kindern und Jugendlichen innerhalb des städtischen Raums zunehmend eingegrenzt werden. Zusätzlich stehen Kinder nach einem verhäuslichten Konzept weitestgehend unter der Beobachtung von Erwachsenen.


Zinnecker kritisiert, dass die Lebenswelt von Kindern in geschützte Räume verlagert wird, da die „Bewegungsfreiheit menschlicher Körper als Handlungsträger ein[geschränkt]“ wird und Kinder kaum Erfahrungen von eigener Selbstwirksamkeit sammeln können. Weiterhin wird durch den eingeschränkten Kontakt zu anderen Altersgruppen das Sozialisationspotenzial erheblich beschnitten. Die städtische Nahwelt als Lern- und Lebensraum geht verloren. Stattdessen entwickeln sich verhäuslichte Kinder häufig zu „sportiven Kindern“, die sich durch einen geplanten Alltag, der durch Schule und Termine in Sport- und Freizeiteinrichtungen geprägt ist, auszeichnen. 

Die Schule bietet zwar für Straßenkinder einen Gegenspieler, da eine Verschulung im Gegensatz zur Ungebundenheit auf der Straße steht. Spieltätigkeiten werden „verschult“ und finden nur unter der Obhut von Pädagogen statt. Allerdings gibt es in der Schule die Möglichkeit, sich in Peerkulturen zu entwickeln, was durch eine Verhäuslichung zunehmend relevanter wird. 


Ein Blick in heutige Umstände

Christian Oswald folgt Zinneckers Thesen und stellt fest, dass die Verhäuslichung mittlerweile so fortgeschritten ist, dass „Straßenkinder“ im Jahre 2018 vor dem Hintergrund einer behüteten Kindheit als sozialpolitischer und moralischer Skandal erscheinen. Allerdings lässt sich auch feststellen, dass ein Aufwachsen „auf der Straße“ thematisch im Gangster- und Straßenrap behandelt wird. Dies stellt ein Musikgenre dar, das sich mittlerweile an Beliebtheit in allen sozialen Milieus erfreut. Der Erfolg des Genres stellt eine Diskrepanz zur Verhäuslichung der Kindheit dar, was sich eventuell durch die Möglichkeit eines Ausbruches aus den verhäuslichten Strukturen erklären lässt.


Szenerie Kölner Tatort, 2015

Zur Diskussion

Abschließend wurde diskutiert, ob und wenn ja, inwiefern die Verhäuslichung von Kindheiten heutzutage weiter fortschreitet. Dabei ergab sich ein eindeutiges Stimmungsbild, dass spielende Kinder im Stadtbild kaum mehr eine Rolle spielen und dementsprechend die Verhäuslichung die Kindheit zunehmend bestimmt. Dabei kann die Corona-Pandemie als ein Extrembeispiel gesehen werden, da zur Zeit der Lockdowns Kinder gezwungenermaßen ihr Leben in Innenräumen gestalten mussten. Außerdem wurden Gründe angeführt, wie die Angst der Eltern, ihre Kinder unbeaufsichtigt auf der Straße spielen zu lassen, wobei diese Ängste häufig subjektiv begründet sind und sich statistisch nicht belegen lassen. Interessant ist das Voranschreiten der Generationen, da die Eltern heutiger Kinder laut Zinnecker selbst bereits eine verhäuslichte Kindheit erfahren haben.

Weiterhin wurde nach Möglichkeiten der Entfaltung für Kinder und Jugendliche im öffentlichen Raum gesucht. Diskutiert wurde vor allem eine Reduktion des Verkehrs, wodurch Räume geschaffen werden könnten. Auch Parkplätze, die zum Teil neu bepflanzt werden und somit Möglichkeiten als „Spielwiesen“ bieten können, wurden in Betracht gezogen. Generell gilt, dass es notwendig ist, in Städten bessere Angebote für Kinder und Jugendliche zu machen oder ganze Quartiere kinderfreundlicher zu gestalten. 

Quellenverzeichnis

Textquellen:
Zinnecker, Jürgen (2001): Stadtkids. Kinderleben zwischen Straße und Schule. Juventa Verlag: Weinheim/ München.

Bildquellen: 

Jürgen Zinnecker (auf der Sektionstagung 2004 in Halle-Wittenberg). Abrufbar unter https://soziologie.de/fileadmin/sektionen/bildung-und-erziehung/Nachruf_Juergen_Zinnecker_Sektion_Bildung_und_Erziehung.pdf (letzter Zugriff: 09.12.2022)

Spielende Kinder auf der Straße (Leipzig, 24.03.1990). Abrufbar unter: https://einheit.leipzig8990.de/assets/digis/NA_Kuehne_KB_1990_0161_N026.jpg (letzter Zugriff: 09.12.2022)

Auf der Strasse spielende Kinder (ca.1950). Abrufbar unter: http://scope.staatsarchiv.sg.ch/detail.aspx?ID=683278 (letzter Zugriff 09.12.2022)

Fernsehfilm Tatort (Köln „Freddy tanzt“ von 2015). Abrufbar unter: https://www.ardmediathek.de/video/tatort/freddy-tanzt-oder-team-koeln/das-erste (letzter Zugriff: 04.12.2022)