Hochschulseminar – Wer hat Angst vor dem Zufall?
 
Kai Vöckler, Prishtina is everywhere
Desiree Spahn, 15.04.2018



Kosovo l Prishtina l Turbo Urbanism

After attending a conference at the Institute of Urban Development of the Graz University of Technology in April 2005 on the topic "Change in Eastern European cities since the dissolution of the socialist social system", a lecture on Prishtina aroused the author's interest in developments in the city. What is special about this city is that it is in a post-conflict situation as well as in the transformation phase to a social market economy. The city structure has been destroy
ed, builders are not accepting help from professional trades and the UN administration and the provisional government are not intervening. These problems led Kai Vöckler to travel to Kosovo to get an idea of the situation and to research for a newspaper article. Unlike planned, this visit led to the creation of a non-governmental organisation. The book "Prishtina is everywhere" was written. Vöckler wrote about his experiences in Prishtina and the work of the NGO.




Buchcover "Prishtina is everywhere"
(https://image.isu.pub/180803142835-d40c8c7c258091ccf7fdb993d81442c2/jpg/page_1_thumb_large.jpg)

Warum Prishtina?


Nach dem Besuch einer Konferenz am städtebaulichen Institut der TU Graz mit dem Thema „Veränderung osteuropäischer Städte seit der Auflösung des sozialistischen Gesellschaftssystems“ im April 2005 wurde durch einen Vortrag über Prishtina das Interesse des Autors an den Entwicklungen in der Stadt geweckt. Das Besondere an dieser Stadt ist, dass sie sich sowohl in einer Postkonfliktsituation befindet, als auch in der Transformationsphase zur sozialen Marktwirtschaft. Die Stadtstruktur ist zerstört, Bauherren nehmen keine Hilfe von professionellen Gewerken an und die UN- Verwaltung und die provisorische Regierung greifen nicht ein. Diese Probleme führten dazu, dass Kai Vöckler in den Kosovo reiste, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen und für einen Zeitungsartikel zu recherchieren. Anders als geplant zog dieser Besuch die Gründung einer Nichtregierungsorganisation nach sich. Zudem entstand das Buch „Prishtina is everywhere“, in welchem Vöckler seine Erlebnisse in Prishtina und die Arbeit der NGO ausführt.


Allgemeines



Der Kosovo ist eine Republik und gehört zu Südosteuropa. Seit dem 17. Februar 2008 gilt sie als unabhängig. Auf einer Fläche von etwa 10.908 km²  leben ungefähr 1.900.000 Menschen. Die Hauptstadt Prishtina befindet sich im Nordosten des Landes und umfasst 572 km². Dort leben 200.000 Menschen.


Geschichtlicher Hintergrund


Die Geschichte des Kosovo ist geprägt von Unterdrückung und Vertreibung. Zwischen Serbien und Albanien wurde lange Zeit um die Region des Kosovo gestritten. Beide Länder sahen die Region als „Geburtsstätte ihrer nationalen Identität“ und begründeten so ihren Anspruch auf den Kosovo. Gegenseitige Maßnahmen führten zu Konflikten und steigerten sich immer weiter. 1997 begannen Übergriffe durch die albanische Organisation UCK, die „Befreiungsarmee des Kosovo“, welche durch den Einsatz von Gewalt geprägt waren.

Im März 1999 schritt die NATO mit Lufteingriffen ein, bei denen es zivile Opfer gab. Im Juni 1999 kam es zum Einmarsch der Kosovo Force Truppen der NATO und somit zum Ende des Kosovo Kriegs. Der Kosovo wurde anschließend unter UN-Protektorat gestellt und die United Nations Interim Administration Mission eingesetzt, um das Territorium zu verwalten. Unter der Verwaltung sollen Justiz, Polizei und die eigene Veraltung wieder aufgebaut werden und die Stadt in allen Bereichen wieder selbstständig organisiert werden.

Turbo-Urbanismus l Postkonfliktsituation

Nach dem Kosovo Krieg kam es durch bessere Zukunftsperspektiven in der Stadt zu einem Zuzug von Migranten in Prishtina. Zudem wurden Flüchtlinge, deren Duldungsstatus in anderen Ländern nicht mehr gültig war, zurückgeführt. So kam es zu einem Bevölkerungsanstieg, der gleichzeitig einen erhöhten Wohnraumbedarf mit sich brachte. Die Folge war eine stark ansteigende Bautätigkeit, bei der sich fast alle gesellschaftlichen Schichten aufgrund der hohen zu erwartenden Gewinne partizipierten. Sozial Schwache blieben ausgeschlossen. Problematisch waren dabei vor allem die fehlenden rechtlichen Rahmenbedingungen und die nicht funktionierenden staatlichen Institutionen.

20 Prozent der Bevölkerung lebte und arbeitete im Ausland und übte durch Geldsendungen an die Familien im Inland großen Einfluss auf die Wirtschaft im Land aus. Durch den damaligen Wirtschaftsaufschwung wurde der Bauboom außerdem vorangetrieben. Dabei wurden vorhandene Bebauungspläne nicht berücksichtigt und das historische Erbe der Stadt nicht bewahrt. Ein großer Teil der gesamten Stadtstruktur ist durch neue Bauten stark in seiner optischen Erscheinung verändert worden, da Verordnungen durch die Regierungen nicht durchgesetzt werden konnten.

So entwickelte sich in Prishtina schnell ein unkontrollierter Urbanismus, der vor allem durch ökonomische Belange und Teilinteressen gelenkt wird. Die Hauptbeteiligten im Baugewerbe sind Investoren, Hausbesitzer und Familienverbände. Diese achten beim Bau vor allem auf eine hohe Flexibilität in der Nutzung, sodass die Verkaufschancen möglichst hoch sind und die Menge möglicher Käufer nicht begrenzt wird.

Es gab verschiedene Richtungen der Stadtentwicklung:

Bei der Erweiterung ins umliegende Land gab es vor allem Wohnungsbauten, die durch private Eigeninitiative entstanden sind. Dabei war die Bebauungsdichte gering.
Im Bereich der Innenstadt ging es vor allem um die Maximierung des Bauvolumens. Dort wurde Wert auf Mischnutzungen gelegt, um die gute Lage zu nutzen.
Zudem wurden bestehende Gebäude erweitert. Sie wurden vor allem durch Aufbauten ergänzt, die zum Wohnen dienen.

Dabei wurden keine grundlegenden Normen und Richtlinien eingehalten. Oft fehlen Zuwegungen oder ausreichend Flächen zur Rettung in Notsituationen. In vielen Fällen wurden Häuser viel zu dicht aneinander gebaut. Dadurch greift im Brandfall das Feuer schnell auf die Nachbarbebauung über. Grund dafür ist, dass die Baugrundstücke oft bis zur Baugrenze überbaut wurden und keinerlei Abstandsflächen vorhanden sind.

Turbo-Urbanismus Architektur



Die Architektur der Postkonfliktsituation wirkt improvisiert und zeichnet sich durch den Einsatz weniger Materialien aus. Es gibt ein „All in one“ Prinzip, dabei wird versucht, möglichst viele Nutzungen flexibel in einem Gebäude unter zu bringen. Dabei wird vor allem auf Bauformen zurückgegriffen, die durch Medien verbreitet werden. Durch den internationalen Baustoffhandel können alle gewünschten Materlialien importiert werden, auf welche die Menschen durch die Medien aufmerksam werden. Anschließend werden diese auf verschiedenste Weise kombiniert ("Planung ohne Plan") und Gebäude schnell fertiggestellt.
Trotz der Ablehnung moderner Architektur sind keine Bezüge zur traditionellen Architektur vorhanden. Bauherren ließen sich oft von nachbarschaftlichen Gebäuden inspirieren und griffen vorhandene Motive auf, sodass es zu Stilmischungen kam. Sehr auffällig sind außerdem die „Brüder-Häuser“. Dabei lässt ein Vater für seine Söhne genau die gleichen Häuser bauen. Diese werden nebeneinander gesetzt, sodass die Familie immer direkt zusammen wohnt. Der älteste Sohn bekommt auch das erste Haus.






Das Projekt


Nach dem Besuch stand für den Autoren fest, dass es nicht bei einem Zeitungsartikel über die Zustände in Prishtina bleiben sollte. So gründete Kai Vöckler im August 2005 zusammen mit Professoren und Studenten die NGO „Archis Interventions Prishtina“. Neben der Verbesserung des Stadtentwicklungsprozesses durch unabhängige Beteiligte und der Vermittlung zwischen staatlichen Einrichtungen und Privatpersonen sollte die Qualifizierung durch den Zugang zu Fachwissen zu den Zielen der Nichtregierungsorganisation gehören.



Dabei wurde nach einer allgemeinen Bestandsaufnahme in einem ersten Schritt untersucht, warum die Bautätigkeit in Prishtina als informell angesehen werden kann. Zu den Ursachen gehören  unvollständige rechtliche Grundlagen, Korruption, schwache staatliche Institutionen, die hohe Nachfrage nach Wohnraum und die veränderten Machtverhältnisse.

Anschließend wurden die Vorteile einer Legalisierung und Qualifizierung untersucht. Die Legalisierung bietet rechtliche Sicherheit für den Bauherren und ermöglicht es ihm, sich in den Immobiliensektor zu integrieren. Mit der Qualifizierung soll eine Beseitigung von Mängeln in Bezug auf die Gebäudesicherheit erreicht werden. Die Versorgung mit sozialen Einrichtungen und die Anbindung an die Infrastruktur sollen ermöglicht werden.


Zitat von Kai Vöckler aus "Prishtina is everywhere"

Die Nichtregierungsorganisation stellte fest, dass es wichtig ist konkrete Pläne für die zukünftige Stadtentwicklung auszuarbeiten.
Es ist für die Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und Institutionen essentiell, dass Entscheidungsprozesse transparent gemacht und alle Interessen berücksichtig werden. Im Rahmen ihrer Arbeit entwickelte die NGO eine „Urban Pathology Map“. Diese Karte macht die Problemzonen für jeden verständlich sichtbar und zeigt illegale Bereiche im betrachteten Analysegbiet. So konnten verschiedene Formen in Gruppen (z.B. Städtische Verdichtung) zusammengefasst werden, um anschließend in Workshops darauf zugeschnittene Lösungsansätze zu erarbeiten.



1 - Es liegt eine städtische Erweiterung ohne Stellung eines Bauantrags durch Privatpersonen vor. Öffentliche Verkehrsanbindung und baukonstruktives Wissen fehlen.

2 - Es liegt eine städtische Verdichtung durch Familien oder Investoren vor. Der Brandschutz ist minderwertig bis gar nicht umgesetzt und die vorhandene Infrastruktur überbeansprucht.

3 - Es liegt eine städtische Verdichtung durch Investoren für den Bedarf anderer vor. Dabei werden Bebauungspläne und Brandschutz nicht umgesetzt und der Profit steht eindeutig im Vordergrund.

4 - Es liegt eine städtische Verdichtung durch erweiternde Bauten auf Dächern von bestehenden Gebäuden durch Familien vor.




Abschließend wurde ein Strategiekonzept aufgestellt. Dieses beinhaltet fünf Strategien, welche die notwendigen Themenbereiche einbeziehen sollen, um Veränderungen zu erreichen.

Dazu gehören:

Unterstützungsstrategie - Dabei soll eine Vermittlung zwischen den verschiedenen Beteiligten, Bauherren, Grundstücksbesitzern und Investoren, unterstützt werden, sodass Kompromisse zwischen den einzelnen Bedürfnissen ermöglicht werden können.

Partizipatorische Strategie - Mit dieser Strategie soll das Fachwissen für alle zugänglich gemacht werden. Dadurch soll beispielsweise eine Aufklärung über die Notwendigkeit von Bauvorschriften erfolgen.

Architektonische Strategie - Durch die Veröffentlichung eines Handbuchs und die Bereitstellung von Beratungsmöglichkeiten sollen die Menschen informiert werden.

Kommunikationsstrategie - Durch öffentliche Arbeit mit Kampagnen oder Ausstellungen sollen die Ziele einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht werden.

Netzwerk Strategie - Die Teilnahme an Workshops und Konferenzen soll Interessierte vernetzen.




Quellenangaben

Kai Vöckler (2009): "Prishtina is everywhere", Berlin, Parthas Verlag