Götz Brinkmann, Thorsten Kottisch, Annike Lierse, Uta Schneider, 31.01.2011
10+1 Fragen an den Architekt und Stadtplaner Prof. Dr. Hans Stimmann
„Hans Stimmann gab Berlin ein neues Gesicht.“ Titelte Anfang April 2006 Spiegel-Online. Unser Protagonist stand damals kurz vor seiner Pensionierung als Berliner Senatsbaudirektor. Das „Neue Gesicht“ Berlins war und ist allerdings immer noch Gegenstand der hitzigen Architekturdebatte um die (Neu-)Gestaltung der Stadt seit 1945 bzw. seit der Wiedervereinigung. Als Vertreter der „kritischen Rekonstruktion“, einem kontextuellen Städtebau der sich am historischen Stadtgrundriss und an der lokalen Bautypologie orientiert, hat Hans Stimmann neben Befürwortern (u.a. Hans Kollhoff) auch einiges an Kritik einstecken müssen. Diese kam - schlussrichtig, hauptsächlich aus dem Lager der freier denkenden Architekten- und Künstlerszene, dessen Akteure - unter anderem Persönlichkeiten wie Daniel Libeskind, Richard Meier oder Günter Behnisch - große Schwierigkeiten hatten mit den im „Planwerk Innenstadt“ aufgestellten strengen Regeln zurechtzukommen.
Hans Stimmann prägte über einen großen Zeitraum das Baugeschehen in Berlin.
Im Rahmen des Moduls 3.2 „Privater und öffentlicher Raum“ im Wintersemester 2010/11, unterrichtet von Prof. Klaus Schäfer an der School of Architecture Bremen (SoAB), haben wir Herrn Stimmann zu einem schriftlichen Interview gebeten. Im Focus der Fragen stand, auch im Hinblick auf unseren städtebaulichen Entwurf (Modul 1.1 „Boulervard Peripherique, Prof. Klaus Schäfer), die Erforschung nach der Bedeutung der „Parzelle in der Stadt“.
Das fertige Interview lag uns am 17. Januar 2011 vor:
1 Was bedeutet für Sie die Parzelle als Gliederungselement der Stadt?
Die Parzelle ist ein städtebauliches Ordnungselement als da sind Fluchtlinien, Höhenbegrenzungen und eben die Parzelle. Sie definiert den Maßstab des Städtischen und die Typologie der Häuser. Gegenüber der Architektur ist sie neutral.
2 Welche Bedeutung hatte das Thema der Parzellenbildung in Ihrer bisherigen Arbeit?
Das Thema war bei dem Versuch, das Thema Städtebau bzw. Stadtbaukunst nach den Jahrzehnten der Stadtplanung wieder zu aktivieren und zum Gegenstand praktischer Arbeit planender Verwaltungen zu machen, von hervorragender Bedeutung.
3 Sehen Sie einen gewandelten Blick auf das Thema der Parzelle in der jüngeren Entwicklung der Stadtplanung?
Angesicht der Individualisierung wäre es notwendiger denn je zuvor, das Thema der Parzellierung und damit auch der Eigentumsstrukturen zum Thema zu machen. Leider beschäftigen sich die Praktiker nicht damit, sondern sie planen nach BauBG, sie entwerfen als Architekten am liebsten Objekte, die sich nicht einfügen, aber den Investoren ein Marketingbild der Investition liefern.
4 Welche Bedeutung hat das Thema der Parzelle für die zukünftige Stadtentwicklung?
Siehe zu 3.; hätte eine herausragende Stellung verdient, hat es aber praktisch nicht. Auch Bund und Länder verkaufen nicht Parzellen, sondern Bauflächen.
5 Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen partizipativen Elementen und dem Thema der Parzelle?
Auf der Parzelle kann sich der Bauherr - z. B. auch die Baugruppe - wenn man so will, verwirklichen.
6 Welchen Stellenwert hat das Prozesshafte für Sie in der Architektur und gibt es einen Zusammenhang mit der Eigentumsstruktur?
Nur die Parzelle ermöglicht eine prozesshafte Entwicklung. Sonst warten, hoffen die Städte auf kapitalschwere Großinvestoren.
7 Hat das Thema ‚Selbstbildungsprozess‘ in der Stadt eine Relevanz zur Architektur und zum Städtebau?
Siehe dazu Antworten zu 5 und 6.
Auf kleinen Grundstücken können sich Nutzungsmischung und architektonische Vielfalt einfacher entwickeln.
8 Was bedeutet Ihnen das Thema ‚Variabilität‘ und ‚Nische‘ für die Bewertung von alter und neuer Stadt?
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9 Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen den ökonomischen Bedingungen der Stadtentwicklung und dem Thema: Parzelle?
Die Parzelle ist das Gegenteil der Idee von der kollektiven Stadt der ’Neuen Heimat’ und/oder der privaten Großinvestoren.
10 Gibt es einen Ort, wo für Sie der Wert einer parzellierten Struktur am deutlichsten wird?
In jeder Stadt vor 1914.
11 Wie sieht in ihren Augen ein gutes Stadthaus aus bzw. welche Eigenschaften macht es zu einem?
Stadthäuser gibt es in unterschiedlichsten Größen und Architekturen. Ein fünfgeschossiges Mietshaus auf einer Parzelle ist genauso wie ein zweigeschossiges Bürgerhaus in der Kleinstadt definitorisch ein Stadthaus.
Aussehen? Es sollte in jedem Fall ein Teil des Straßenraumes sein.
Prof. Dr. Hans Stimmann 17. Januar 2011
Selbstbildung =Eigenschaft, aus sich heraus auf Bedürfnisse zu reagieren, d.h. Nutzungswandel, Nutzungserweiterung, Ergänzungen im Quartier aus den strukturellen Gegebenheiten des städtischen Gefüges; Entwicklungsmöglichkeit aus sich heraus ohne direkten (stadt-)planerischen Eingriff.
(Self-generation process)
Partizipation = unmittelbare Teilhabe der Bewohner und Nutzer an Gestaltung und Verantwortung für ein Quartier, die Straße oder den Block, als eine wichtige Identität schaffende Eigenschaft.
Prozess = Fähigkeiten der Architektur über lange Zeiträume zu: Solidität, Alterungsfähigkeit, Umbaufähigkeit, Transformation und Erweiterung.
Lebenslauf Prof. Dr. Hans Stimmann * 9. März 1941 in Lübeck
Mittlere Reife
1958 - 1961 Maurerlehre
Bis 1965 Architekturstudium an der Staatlichen Ingenieurschule der Fachhochschule Lübeck
Bis 1970 angestellter Architekt für Industrie-, Wohnungs- und Schulbau in Frankfurt am Main
Ab 1970 Studium der Stadt- und Regionalplanung an der Technischen Universität Berlin
1975 Doktorand am Institut für Stadt- und Regionalplanung der TU Berlin
1977 Promotion, Technischer Referent beim Senator für Bau- und Wohnungswesen in Berlin (bis 1981)
1980 - 1985 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin und an der Technischen Universität Hamburg-Harburg
1985 - 1986 freier Mitarbeiter im Büro für Bauwesen und Stadtentwicklung in Berlin
Ab 1986 Bausenator in Lübeck
1991 Senatsbaudirektor in der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, Berlin
1996 - 1999 Staatssekretär für Planung in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie, Berlin
Konzeption des „Planwerk Innenstadt“
1999 - 2006 erneut Senatsbaudirektor in der Senatsverwaltung für Bau- und Wohnungswesen, Berlin
Ab 2006 vermehrt tätig als Buchautor (Berliner Altstadt: Von der DDR-Staatsmitte zur Stadtmitte; Stadthäuser; Berlin Mitte: Building the Metropolitan Mix; u.A.)
Hans Stimmann erhielt 2009 das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland für sein Bemühen um die Wiedergewinnung des Berliner Stadtgrundrisses als historisches Gedächtnis.
Links:
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,408866,00.html
http://www.tagesspiegel.de/berlin/stimmann-will-wieder-mitreden/1515770.html
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2000/0429/magazin/0001/index.html
http://www.welt.de/print-welt/article89162/Eine_Hymne_fuer_Hans_Stimmann.html
Quellen: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,408866,00.htm;l http://www.tagesspiegel.de/berlin/stimmann-will-wieder-mitreden/v_default,1515770.html; http://www.amazon.de/s/ref=nb_sb_noss?__mk_de_DE=%C5M%C5Z%D5%D1&url=search-alias%3Daps&field-keywords=hans+stimmann&x=0&y=0 http://deu.archinform.net/arch/44289.htm; http://deu.archinform.net/arch/44289.htm; http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Stimmann