Hochschulseminar – Wer hat Angst vor dem Zufall?
 
Lacaton & Vassal
Stefanie Deumeland, Torly Osterholz, Februar 2018

The work of Lacaton and Vassal does not correspond to the classical image of the architect. There are no sumptuous and elaborate visions with noble materials. With minimal intervention the existing is meaningful renewed. For Lacaton and Vassal building always means adding and transforming the existing one. In doing so, they limit their interventions to the minimal provisional. Much of what is needed to build does already exist. Only after detailed examination of the existing changes are made. The focus remains on the essential. The architecture is focused on the clarity, simplicity, and economics.

In the following, the principles of the architecture of Lacaton and Vassal are explained with architectural examples.

moving boundaries of architecture (Paillote, Niamey 1984)

doubling of space (Maison Latapie, Floirac 1993)

maximum effect through minimal commitment (Place Léon Aucoc, Bordeaux 1996)

set priorities (Palais de Tokyo, Paris 2001)

changing the standard (Cité manifeste, Mulhouse 2005)

alienation of the material and the system  (Ecole d'architecture, Nantes 2008)

architecture recycling - never tear down (la Tour Bois le Prêtre, Paris 2011)

summary of the criteria (Quartier du Grand Parc, Bordeaux 2016)


Die Arbeiten von Lacaton und Vassal entsprechen nicht dem klassischen Bild des Architekten. Es gibt keine üppigen und aufwendigen Visionen mit edlen Materialien. Mit minimalem Eingriff wird das Bestehende sinnvoll ergänzt.
Für Lacaton und Vassal bedeutet Bauen immer das Hinzufügen und Transformieren des Bestehenden. Dabei beschränken sie ihre Interventionen auf das Minimale. Vieles von dem, was zum Bauen benötigt wird, existiert bereits.
Erst nach eingehender Prüfung der bestehenden Änderungen werden diese vorgenommen. Der Fokus liegt auf dem Wesentlichen. Die Architektur konzentriert sich auf Klarheit, Einfachheit und Wirtschaftlichkeit.
Im Folgenden werden die Prinzipien der Architektur von Lacaton und Vassal anhand von Architekturbeispielen erläutert.

Grenzen der Architektur verschieben (Paillote, Niamey 1984)

Verdoppelung von Raum (Maison Latapie, Floirac 1993)

Maximaler Effekt durch minimalen Einsatz (Place Léon Aucoc, Bordeaux 1996)

Prioritäten setzen (Palais de Tokyo, Paris 2001)

Änderung des Standards (Cité manifeste, Mulhouse 2005)

Verfremdung des Materials und des Systems (Ecole d'architecture, Nantes 2008)

Architekturrecycling - niemals Abreißen (la Tour Bois le Prêtre, Paris 2011)

Zusammenfassung der Kriterien (Quartier du Grand Parc, Bordeaux 2016)



Anne Lacaton wurde am 02.08.1955 in Saint Pardoux la Rivière (Frankreich) und Jean-Philippe Vassal am 22.02.1954 in Casablanca (Marokko) geboren. Sie lernten sich im Studium an der Architekturhochschule in Bordeaux kennen und machten dort 1980 auch ihren Abschluss. 1984 erwarb Anne Lacaton ihr Diplom in Stadtplanung an der Universität von Bordeaux. Zeitgleich von 1980 bis 1985 war Jean-Philippe Vassal als Stadtplaner im Niger (West Africa) tätig. Ihr gemeinsames Büro gründeten sie 1989 in Paris.


Eine primitive Hütte, die Jean-Philippe Vassal in Niamey (Niger) baute, prägte ihn und seine Architektur und führte zu einer speziellen Art von „Doppelhaus“. Der lokale Haustyp ist dort eine kreisförmige, geschlossene Hütte von einem hohen Zaun umgeben und ein überdachter Bereich davor. Der geschützte Raum zwischen Hütte und Zaun bildet einen Übergangsbereich zwischen Innen und Außen. Auch der 1992 entworfene Prototyp eines Einfamilienhauses beinhaltetet schon dieses wesentliche Thema ihrer Architektur.


Das 1993 in Floirac gebaute Maison Latapie ist eines ihrer bekanntesten Werke. Hier wurde vom Bauherrn im Grunde genommen nichts verboten. Das einzige Ziel war es, ein großes Haus für eine vierköpfige Familie mit einem knappen Budget von nur 55.000 € zu entwerfen. Das Prinzip des zusätzlichen, ungeplanten Raumes von der afrikanischen Hütte ist auch hier erkennbar. Das Maison Latapie besteht aus zwei gleich großen Teilen. Haus A ist das Wohnhaus und enthält die Festräume. Es enthält alles, was erforderlich ist und würde im Prinzip zum Leben ausreichen. Haus B erweitert das erste Haus mit einer Art Wintergarten. Ein Raum ohne ein bestimmtes Programm. Der geplante Wohnbereich des Hauses wird durch den nicht beplanten, zusätzlichen Raum verdoppelt.


Auf Materialien, die kulturell als "teuer" oder „wertvoll" bezeichnet werden, wurde hier verzichtet. Sie wurden lediglich auf der Grundlage ihrer spezifischen Eigenschaften ausgewählt. Der einfache Baukörper besteht aus einer Stahlkonstruktion, welcher auf der Straßenseite mit opaken Faserzementplatten beplankt ist und auf der Gartenseite mit transparenten, gewellten Polycarbonat-Platten. Für den Innenraum wurde eine einfache Holzschalung benutzt. Das Budget, welches dank der Verwendung von günstigen Materialien und der Bauweise gespart wurde, wurde an anderer Stelle gleich wieder eingesetzt. Dies widerlegt den irrtümlich vereinfachten Ansatz der Architektur von Lacaton & Vassal, dass sie ihre Projekte für die Hälfte der verfügbaren Mittel bauen. Sie nutzen das gesamte Budget, bauen aber die doppelte Fläche.


1996 erhielten Lacaton & Vassal den Auftrag den Léon Aucoc Platzes in Bordeaux zu verschönern. Hier stellt sich ein anderes Prinzip von Lacaton & Vassals Architektur dar: Die maximale Wirkung durch minimalem Einsatz.Nach einer ausgiebigen Befragung der Bewohner war Lacaton & Vassals Vorschlag lediglich eine bessere Wartung und Pflege. Sie sahen keine Notwendigkeit architektonisch einzugreifen und entwarfen einen Katalog an Maßnahmen, der die Wartung und Pflege des Platzes gewährleisten sollte. Sie gaben damit den Anreiz zur Änderung der Wahrnehmung des Vorhandenen: Das Erkennen, Wertschätzen und Weiterentwickeln von Qualitäten.


Das Palais de Tokyo ist ein von der französischen Regierung und der Stadt Paris im Jahr 1937 fertiggestelltes Museums- und Ausstellungsgebäude für moderne Kunst. Das Gebäude gliedert sich in zwei Hauptflügel, die in der Mitte durch einen Hof mit einem dreiseitigen Portikus verbunden sind. Es wurde am 24. Mai 1937 anlässlich der Eröffnung der Pariser Weltausstellung eingeweiht. Namensgebend war die damals zwischen dem Gebäude und der Seine verlaufende Avenue de Tokio (seit 1945 Avenue de New York). Nachdem gescheiterten Umbau des Museums zum Palais de Cinema erkannten Lacaton und Vassal die vorhandenen Qualitäten des Bauwerkes.


2001 setzten sie das gekürzte Budget für Sanierungs-und Renovierungsarbeiten ein. Es entstand ein Prioritätenkatalog, welcher in mehreren Bauabschnitten umgesetzt wurde. Auch nach der vollständigen Renovierung 2012 befindet sich das Gebäude, auf den ersten Blick betrachtet, im Zustand einer Baustelle. Für Lacaton und Vassal bedeutet Bauen Hinzufügen und Transformieren des Vorhandenen. Ihre Maßnamen beschränken sich auf minimale, provisorisch wirkende Eingriffe.


Jean Nouvel entwarf den Masterplan für die Cité Manifeste, indem er die städtebauliche Struktur der Arbeitersiedlung Mülhausen aufnahm. Entstanden sind vier Reihenhauszeilen in einem streng orthogonal geordneten Raster die durch einen quer angeordneten Riegel gefasst sind. Die von Lacaton und Vassal entworfene Zeile besteht aus 14 ineinander verzahnten Wohnungen. Mittels günstiger Baustoffe wird mehr Raum, als für Sozialwohnungen üblich, generiert.


Lacaton und Vassal finden ein andere Antwort auf die Gleichung minimales Budget - minimaler Platz: durch die Änderung des bestehenden Standards werden die Wohn -und Nutzungbedingungen optimiert. Die Vorgaben über die Größen von Sozialwohnungen werden missachtet, bleiben aber im vorgegebenen Kostenrahmen.


Die Konstruktion und die Erschließung der 2008 gebauten School of Architecture in Nantes erinnert an die Typologie eines Parkhauses. Diese Typologie erlaubt differenzierte Funktionen. Beispielsweise erfolgt die Anlieferung schwerer Materialien bis zur obersten Etage über eine Rampe. Das wirtschaftliche System eines Parkhauses erlaubte das im Wettbewerb vorgeschriebene Raumprogramm mit nur der Hälfte der zur Verfügung stehenden Mittel zu verwirklichen. Mit den übrigen finanziellen Mitteln konnte ein zusätzlicher Raum von etwa gleicher Größe generiert werden.


Das Gebäude verfügt über zwei Klimazonen. Räume, welche Teil des vorgegebenen Raumprogrammes sind, verfügen über ein herkömmliches Innenraumklima. Alle weiteren zusätzlichen Räume sind Teil eines Wintergartens, welcher durch eine nicht isolierte Fassade vom Außenraum getrennt wird.




Für ihr Buch "Plus" untersuchten Anne Lacaton & Jean Philippe Vassal 2004 zusammen mit Frédéric Druot öffentlichen Wohnungsbau und entwickelten in der gleichnamigen Studie eine Revitalisierungsstrategie zur Sanierung und Erhaltung von Gebäuden in Großwohnsiedlungen aus den 60er und 70er Jahren. Damals hatte sich Frankreich für einen Teilabriss dieser Gebäude entschieden. Sie fanden heraus, dass für die Sanierung eines solchen Gebäudes nur 1/3 der Kosten benötigt werden, was Abriss und Neubau kosten würden. Zwei Hauptmaßnahmen sind die radikale Öffnung der Fassade und die Erweiterung des Wohnraums durch umlaufende Wintergarten- und Balkonmodule, die in den Wohnraum eingebunden werden. Ähnlich einem Baugerüst werden dem Skelettbau vorgefertigte Module von außen an die Fassade angebaut. Das Plus Prinzip lässt sich auf alle Bauten mit vorgehängten, nicht tragenden Fassaden anwenden.


Als Prototyp der Studie Plus gilt der Tour Bois le Prêtre. Mit dem gewonnenen Wettbewerb für den Umbau des Wohnhochhauses konnten sie 2011 an einem konkreten Beispiel arbeiten. Das Gebäude wurde 1961 von Raymond Lopez am Stadtrand von Paris gebaut und in den Achtzigern im Rahmen einer haustechnischen Sanierung bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet. Der Tour Bois le Prêtre sollte nicht aufgewertet werden um neue Luxus-Eigentumswohnungen zu schaffen. Die Wohnungen sollten weiterhin einkommensschwachen Familien zur Verfügung stehen und in Kooperation mit den Bewohnern umgebaut werden. Zudem mussten die Bewohner während der Bauarbeiten ihre Wohnungen nicht verlassen. Auch nach dem Umbau konnten die Mieten unverändert bleiben.


Anhand eines aktuell fertiggestellten Beispiels, dem Quartier Grand Parc in Bordeaux, können alle Prinzipien der Architektur von Anne Lacaton und Jean Phillipe Vassal abgebildet werden.

Ein bestehendes Gebäudeensemble wird mit geringem finanziellen Aufwand und mit eher untypischen Materialien kosteneffizient san
iert.
Die bestehende Architektur wird recycelt niemals abgerissen. Daraus resultiert, dass mit minimalem Aufwand ein maximaler Effekt erzielt werden kann.
Für die Bewohner entsteht mehr Wohnraum, mehr Lebensqualität und keine Mehrkosten. Der zusätzliche Raum ohne Programm ist dem Zufall überlassen.
Seine Nutzung wird durch den Bewohner bestimmt. Der Bewohner ist Teil des Systems. Der unbeplante Raum bietet dem Nutzer Pl
atz für Kreativität und Individualität.
Der Bewohner identifiziert sich mit dem Raum das Gebäude bekommt Identität.
Es erfolgt eine Änderung der Wahrnehmung und Wertschätzung des Gebäudes von Innen und Außen.