Hochschulseminar – Distanz und Dichte
 
Baulichte Dichte vs. Belegungsdichte bei Jane Jacobs: Tod und Leben großer amerikanischer Städte
Hendrik Hintz, 20.03.2021

Baulichte Dichte vs. Belegungsdichte bei Jane Jacobs: Tod und Leben großer amerikanischer Städte
Jane Jacobs wandte sich mit ihrem Wirken gegen die Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Praxis, dichte Bebauung und dichte Besiedelung als Gegensätze zu betrachten und gewachsene urbane Strukturen durch am Reißbrett entworfene, vermeintlich bessere Viertel zu ersetzen.
Um aber zu verstehen, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte, muss man die Situation betrachten, die ihr vorausging und die ihren Ausgang im 19. Jahrhundert nimmt, dem Zeitalter der Industriellen Revolution. Das ‚Neue Bauen‘ ist nur verständlich, wenn man die Probleme des ‚alten‘ Bauens kennt.

Building density vs Occupancy density at Jane Jacobs: The Death and Life of Great American Cities
With her work, Jane Jacobs was fighting the mid-20th-century common practice of seeing dense development and dense settlement as opposites and replacing developed urban structures with apparently better neighborhoods designed on the drawing board.
To understand where this development came from though it is necessary to look at the situation before, which has its origins in the 19th century, the age of Industrial revolution. ‘Neues Bauen’ (eng. New building) can only be understood knowing the problems of ‘old’ building.


Der hohe Bedarf an Arbeitskräften führte zu einem rapiden Bevölkerungswachstum in den Großstädten vor allem Europas und Nordamerikas. Dadurch entstehende neue Stadtteile und Nebenzentren drängten die Bedeutung der Altstädte zurück, teilweise wurde im Zuge von Verdichtungsmaßnahmen historische Bausubstanz abgerissen und ersetzt. Traditionelle städtebauliche Prinzipien wie Blockrandbebauung und Nähe von Wohnen und Arbeiten wurden jedoch beibehalten (z.B. Wien, Folie 2).

The high demand of workers led to a rapid population growth in the cities especially in Europe and North America. Newly developing districts reduced the importance of the historic centers, and sometimes historic building fabric was demolished and replaced during densification measures. Traditional urban planning principles like perimeter block development and proximity of living and working were retained though (e.g., Vienna, 2nd slide).


Der Politik fehlte das Verantwortungsgefühl, bauliche Regeln vorzuschreiben, an die sich Investoren zu halten hatten. So wurden viele Viertel von Spekulanten nur mit Blick auf Profitmaximierung und ohne Rücksicht auf die künftigen Bewohner errichtet (z.B. Hinterhofbebauung in Berlin, Folie 3). Wenig Licht, schlechte Luft und mangelnde Hygiene waren die Folge und begünstigten die Ausbreitung von Krankheiten.

There was a lack of awareness in politics for the responsibility of setting building rules for investors to follow. Many districts were built by speculators only in order to maximize their own profit, paying no attention to needs of the future residents (e.g., backyard development in Berlin, 3rd slide). Therefore, little light, bad air and a lack of hygiene led to the spread of diseases.


Vor diesem Hintergrund ist der empfundene Gegensatz von baulicher und Belegungsdichte bereits verständlicher, und es verwundert nicht, dass sich um die Jahrhundertwende Reformbewegungen bildeten, die die Probleme in den Städten zu lösen versuchten.
Einen ersten Ansatz lieferte die Gartenstadtbewegung aus England. In Trabantenstädten außerhalb Londons sollten durch die Trennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit und durch lockere Bebauung mit viel Grün die Vorteile von Stadt- und Landleben kombiniert werden (Folie 4).

With this background it is already easier to understand the supposed contradiction of structural and occupancy density, and it does not surprise that at the edge between 19th and 20th century, reform movements developed, trying to solve the problems in the cities.
One of the first approaches was the Garden city movement in England. In satellite towns around London, the benefits of both urban and rural life were meant to be combined by separating living, working and leisure and low-density development with a lot of greenery (4th slide).


Den bedeutendsten Umbruch bildete allerdings die Charta von Athen, bei der in einem internationalen Kongress Leitlinien für einen neuen Städtebau festgelegt wurden. Als Kernprobleme wurden eine zu dichte Besiedelung historischer Stadtkerne, schlechte Wohnbedingungen in dicht besiedelten Vierteln und die Entfernung zur Natur definiert, und die Lösung sollten vor allem die Trennung von Stadtteilen nach Funktionen und der Bau großer Wohnungshäuser mit viel Grün dazwischen bieten. Le Corbusier, der die Konferenz federführend mitbestimmte, griff einige Beschlüsse mit seinem (nicht verwirklichten) ‚Plan voisin‘ von 1925 für Paris bereits vorweg (Folie 5).
In Deutschland vor allem beim Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg in Form der ‚autogerechten Stadt‘ berücksichtigt, fand die Charta von Athen in den USA im Rahmen des New Deal schon ab 1940 Anwendung, als unter dem Schlagwort ‚urban renewal‘ großflächig Altbaubestand abgerissen und durch Quartiere nach Vorbild der Charta von Athen ersetzt.

The most radical change though came with the Charta of Athen, where guidelines for a new urban planning were set in an international congress. The main problems were defined as too densely populated historic city centers, poor living conditions in the densely populated districts and distance from nature. The solution should be the separation of the cities’ districts by their functions and the construction of large apartment buildings with a lot of greenery in between. Le Corbusier, who played a leading role in the conference, already anticipated some of its results in 1925 with his (unrealized) ‘Plan voisin’ for Paris (5th slide).
In Germany being shown credit especially with the ‘Automotive city in the phase of ‘Wiederaufbau’ (eng. Reconstruction) after World War 2, the Charta of Athen was already used since 1940 in the US, when as a part of the New Deal, historic building substance was demolished and replaced by buildings following the Charta’s ideas.


So auch in New York, wo Jane Jacobs ab 1934 lebte und sich seit Beginn ihrer journalistischen Tätigkeit für das ‚Architectural Forum‘ als Gegnerin des zeitgenössischen Städtebaus profilierte und damit einen erheblichen Beitrag zum Wandel der öffentlichen Meinung hin zu einer kritischen Haltung zu den Flächensanierungen der Kriegs- und Nachkriegszeit leistete. So konnte sie als Teil einer Bewegung den weitgehenden Erhalt des Greenwich Village in Manhattan, wo sie seit 1944 mit ihrem Mann lebte, erreichen. 2006 starb sie in Toronto, wohin sie 1969 übersiedelt war.

This also happened in New York, where Jane Jacobs lived since 1934 and with the begin of her journalistic work for ‘Architectural Forum’ started to establish as an opponent to contemporary urban planning, this way doing her part to change public opinion to a critical view of the area redevelopments during and post-war. As a part of a movement, she could achieve the preservation of most Greenwich Village, where she lived with her husband since 1944. She died in Toronto in 2006, whereto she moved in 1969.


Ihr bekanntestes Werk ‚Tod und Leben Großer Amerikanischer Städte‘ entstand 1961 als ‚Angriff auf die landläufige Stadtplanung und den landläufigen Umbau der Städte‘ und gilt als eines der einflussreichsten Werke zum Thema Städtebau überhaupt. Darin beklagt sie, die ‚Urban renewal‘ habe gewachsene Gemeinschaften zerstört und durch unnatürliche, isolierte Orte ersetzt. Stattdessen fordert sie Respekt für gewachsene Strukturen und ‚Chaos‘, das seine eigene Weisheit habe. Auch fordert sie Gebäude in verschiedenem Alter und Zustand, um eine größere soziale Durchmischung zu ermöglichen.

Her most famous work ‘The Life and Death of Great American Cities’ was written in 1961 as ‘an attack on current city planning and rebuilding’ and is seen as one of the most influential works about the topic of urban planning. Therein, she complains about Urban renewal having destroyed grown communities and replaced it with unnatural, isolated spaces. Instead, she demands respect for evolved structures and ‘chaos’, which has its own wisdom. She also demands buildings of different age and condition to gain greater social mixing.


Eine wichtige Funktion nimmt bei ihren Thesen der Bürgersteig ein, dem sie vor allem drei wichtige Funktionen zuschreibt:
Bürgersteig und Sicherheit – ein belebter Bürgersteig führe durch die gegenseitige Überwachung durch die Menge zu größerer Sicherheit, als sie die Polizei je schaffen könne. Demgegenüber sei in den großen, unüberwachten Räumen in und zwischen den neu errichteten Gebäuden jeder Kontakt eine potenzielle Gefahr, was zum Rückzug in die eigene Wohnung und einer Verödung des öffentlichen Lebens führe.
Bürgersteig und Privatsphäre – der Bürgersteig als Raum der Gleichberechtigung schaffe die Möglichkeit, ohne Preisgabe des eigenen Privatlebens in Kontakt mit anderen zu treten. In den Vorstädten ohne ‚Gehwegleben‘ müsse stattdessen einem kleineren Personenkreis mehr Einblick in die eigene Privatsphäre gestattet oder weitgehend auf soziale Kontakte verzichtet werden. Auch die Möglichkeit zum Austausch mit Menschen anderen sozialen Hintergrunds fehle dort
Bürgersteig und Erziehung – auf dem Bürgersteig könnten Kinder spielen, während die Eltern auf sie aufpassen, und dabei lernen, dass für das Zusammenleben ein Maß an Verantwortung füreinander notwendig ist. Sie empfiehlt daher neun Meter breite Bürgersteige als optimal, nennt als Zugeständnis an das Auto jedoch auch sechs Meter ausreichend.

In her theories, the sidewalk takes a central place and is divided by three important functions:
Sidewalk and safety – due to the mutual supervision, she argues, a bustling sidewalk leads to more safety than police could ever provide. In contrast, in the huge and unsupervised spaces both in and between the newly constructed buildings, every contact is would be a potential threat, a situation leading to a retreat to the own apartment and the desolation of public life.
Sidewalk and privacy – the sidewalk as a space of equality creates the possibility of making contact with other people without needing to reveal the own private life. In the suburbs without ‘sidewalk life’ people would either have to allow a smaller circle of people more insight into their own private lifes or largely abstain from any social contacts instead. Also, the possibility to exchange with people from other social backgrounds is missing there, she claims.
Sidewalk and education – children can play on the sidewalk while being supervised by their parents, and this way learn that a certain level of responsibility for each other is necessary in order to live together. Thus, she recommends nine meters as the optimal width for a sidewalk, but also calls six meters acceptable as a concession to cars.


Jane Jacobs teilt die Stadt in drei Ebenen ein: die Stadt-Ebene, die Bezirks- und die Straßenebene. So wie die Stadt ihren Bewohnern verschiedene Funktionen biete, müssten auch Bezirk und Straße vielfältig aufgebaut sein, um zu verschiedenen Tageszeiten attraktiv und belebt zu sein. In diesem Sinne ähnelten sich alle drei Ebenen, wobei der Bezirksebene als Vermittler eine besondere Aufgabe zukomme: idealerweise sei der Bezirk ‚groß genug, um es mit der Stadt aufnehmen zu können, und klein genug, um für die Belange der Straßen erreichbar zu bleiben‘.

Jane Jacobs divides the City into three levels: the city level, the district level and the street level. Just like the city offering different functions to its citizens, districts and streets must be arranged diversely to be attractive and animated during different daytimes. This way, the three levels resemble each other with the district level taking a special role as a mediator: ideally it should be ‘large enough to approach the city and small enough to stay in touch for the street’s needs'.


Mit seinem Erscheinen löste das Buch ein Umdenken in der Öffentlichkeit aus, was die Meinung zur Praxis der Flächensanierungen betrifft, und trug damit unmittelbar zur Rettung gewachsener Strukturen in New York und anderen amerikanischen Großstädten bei. Die Entwicklung gab Jane Jacobs dabei recht: während die ‚sanierten‘ Viertel zu Horten von Armut und Kriminalität wurden, unter denen New York bis in die 1990er Jahre zu leiden hatte, waren und sind Altbauviertel wie das Greenwich Village bis heute beliebt. Vorgeworfen wird Jane Jacobs vor allem von der Politischen Linken, sie habe die Gentrifizierung, die besonders in diesen Vierteln die Bewohner ‚vertrieb‘, sowie die Frage nach Rassismus im Städtebau ausgeklammert oder gar verharmlost. Dennoch hat Jane Jacobs mit ihrem Buch und ihrem Wirken allgemein unleugbar einen wichtigen Beitrag geleistet zur kritischen Auseinandersetzung und schließlich weitgehenden Abkehr von den Städtebauprinzipien, wie sie in den USA ab 1940 dominierten, und gilt daher bis heute als Ikone.
Bei heutigen stadtplanerischen Konzepten wie der Seestadt Aspern in Wien (Folie 10) stehen von Jane Jacobs betonte Aspekte wie Nutzungsmischung und die Belebung zu verschiedenen Tageszeiten wieder stärker im Vordergrund.

When published, the book caused a change of public opinion toward the practice of area redevelopments, this way directly contributing to the saving of evolved structures in New York and other American cities. Further development conceded Jane Jacobs theories: whereas the ‘redeveloped’ districts became centers of poverty and crime, under which New York had to suffer until 1990 years, historic neighborhoods like Greenwich Village still are very popular. Especially by the political left, Jane Jacobs is accused of not having payed attention to or even played down gentrification, which especially in these disctricts led to the ‘disposession’ of its inhabitants, and the question about racism in city planning. However, with her book and her general work Jane Jacobs undeniably made a huge contribution to the critical discussion and finally far-reaching turning away from the principles of urban planning that dominated in the US from 1940 and is therefore seen as iconic.
At contemporary city planning concepts like ‘Seestadt Aspern’ in Vienna (10th slide) aspects pointed out by Jane Jacobs like mixed use and animation during different daytimes are once again more in the foreground.



In welchem Maße dies geschieht, war unter anderem Teil der Diskussion im Anschluss an die Präsentation. Die erste der beiden zum Ende gestellten Fragen, ob mit Blick auf die Erfahrungen aus einem Jahr Corona-Pandemie nicht doch die autogerechte Stadt nach der Charta von Athen die bessere Wahl sei gegenüber einem vollen Bürgersteig, fand wenig Echo. Jedoch wurde lebhaft darüber debattiert, wie losgelöst von der momentanen Lage mit dem Erbe der Nachkriegsjahrzehnte hierzulande umgegangen werden sollte. Diskutiert wurde dies u.a. anhand der Beispiele der Neuen Frankfurter Altstadt (Folie 12) und der Neuen Vahr in Bremen, wobei auch die Frage aufgeworfen wurde, ob die Idee der ‚Korrektur‘ von Fehlern aus der Nachkriegszeit denn auch im Sinne der Bewohner*innen betroffener Gebiete sei und ob man sich denn in Altbauvierteln nachts sorgloser bewegen könne als in den Freiflächen zwischen Wohnhochhäusern. Generell zeigte sich, dass die Meinungen zu diesem Thema sehr vielfältig sind und von einer negativen Haltung gegenüber Gebäude- und Stadtteilrekonstruktionen als historistisch bis zu deren Legitimierung als historische Kontinuität reichen.

In which extent this happens was one part of the discussion after the presentation. The first of the two questions posed at the end, if, looking at the experiences of one year with the corona pandemic, the automotive city might not be the more favorable choice instead of a crowded sidewalk, was not broadly discussed. Instead, it was actively debated how apart from the current situation it should be dealt with the remains of the post-war era. This was discussed using the examples of ‘Neue Frankfurter Altstadt’ (New Frankfurt Old Town, 12th slide) and Neue Vahr in Bremen. In the course of this the question was asked if the idea of ‘correcting’ mistakes from the post-war time was also benefiting their inhabitants and if one could move more careless in historic districts then in the free spaces between tall buildings. Generally the discussion showed that the opinions about this topic are very wide-spread and vary between rejection of building district reconstructions as historicist and their legitimation as a historic continuity.