Hochschulseminar – Private Eye on the Public
 
"Jaurés" – Vincent Dieutre, Dokumentarfilm (2012)
Paul Mörker, 17.01.2025
This article explores the documentary Jaurès (2012) by Vincent Dieutre, which intertwines the director's love story with Simon and the living conditions of Afghan refugees in Paris. The narrative unfolds on two levels: through intimate conversations with Éva Truffaut about the relationship and video footage from Simon's apartment, showing the view of a nearby refugee camp. Dieutre draws parallels between his personal experiences and broader societal challenges. The film combines deeply personal reflections with social commentary and has been praised for its emotional depth and complexity, as evidenced by its positive reviews and the Teddy Jury Award at the 2012 Berlinale.


(Filmstill)
Jaurès ist ein französischer Dokumentarfilm von Vincent Dieutre und erschien 2012. Der Film thematisiert Dieutres Liebesbeziehung zu einem ehemaligen Partner sowie die Lebenssituation afghanischer Migranten, die unter einer Brücke in der Nähe der Metro-Station Jaurès leben. Diese Station befindet sich zwischen dem 10. und 19. Arrondissement in Paris, einem Viertel, das früher von Arbeitern geprägt war und sich mittlerweile zu einem Künstlerviertel gewandelt hat.

Vincent Dieutre
Vincent Dieutre, 64 Jahre alt, ist ein französischer Regisseur und Drehbuchautor, der sich auf die Produktion von Dokumentarfilmen und Dokudramen spezialisiert hat. Seine Werke zeichnen sich durch eine poetische und introspektive Erzählweise aus, die oft autobiografische Elemente mit kunstvollen Bildkompositionen verbindet. Dieutre ist bekannt für seine Fähigkeit, persönliche Erfahrungen und universelle Themen wie Liebe, Verlust, und Sehnsucht miteinander zu verweben. Zu seinen bekanntesten Filmen gehören neben Jaurés: Leçons de ténèbres (2000), Bologna Centrale (2003), Mon voyage d'hiver (2003), Fragments sur la grâce (2006). Dieutres Filme sind nicht nur filmische Essays, sondern auch intime Porträts seiner eigenen Wahrnehmung der Welt, was ihn zu einer einzigartigen Stimme im europäischen Autorenkino macht.

Handlung
Die Handlung von Jaurès entfaltet sich in zwei parallelen Erzählebenen, die sich zum Teil gegenseitig ergänzen und reflektieren.

Die erste Ebene spielt sich in einem Studio ab, wo Vincent Dieutre mit Éva Truffaut (Tochter von Françios Truffaut) über seine vergangene Beziehung mit Simon spricht. Die Gespräche kreisen um Vincents Liebe zu Simon und die Schwierigkeiten dieser Beziehung. Vincent sagt mehrfach, dass er Simon liebe. Simon hat das nie ausgedrückt und lebt hingegen zwei Leben. Zum einem führt er mit Vincent eine homosexuelle Beziehung. Zum anderen hält ihre Partnerschaft vor seinen Kindern und anderen „Außenstehenden“ gegenüber geheim. Er hat außerdem eine Ex-Frau in Vietnam. Simon arbeitet für eine Hilfsorganisation, war früher viel auf Reisen und engagiert sich nun für afghanische Geflüchtete, denen er bei Asylanträgen hilft. Diese Gespräche geben Einblicke in die Komplexität ihrer Beziehung und Simons ambivalente Lebenssituation. Immer wieder wird die Melodie von À Chloris (1913) von Reynaldo Hahn auf einem Klavier gespielt. Es sind Tonaufnahmen von Simons Versuchen das Stück zu spielen. Vincent erklärt er habe Simon gebeten das Stück zu lernen, jedoch habe Simon es nie Fehlerfrei gespielt. Außerdem hat Vincent den Text des Stückes für Simon umgedichtet und trägt ihn im Film vor.

Original (übersetzt aus dem Französischen):
Wenn es wahr ist, Chloris, dass du mich liebst
(und mir wurde gesagt, dass du mich innig liebst), [...]

Vincents Version (übersetzt aus dem Französischen):
Wenn es wahr ist, Simon, dass du mich liebst,
(Ich nehme doch an, dass du mich wohl liebst), […]

Die zweite Ebene zeigt Videoaufnahmen aus Simons Wohnung, die Vincent während der Beziehung aufgenommen hat. Die Videoaufnahmen bieten einen Blick aus dem Fenster von Simons Wohnung auf den Kanal und ein Flüchtlingslager unter der Brücke nahe der Metro-Station Jaurès bieten. Diese Aufnahmen werden ebenfalls von den Gesprächen von Vincent und Éva begleitet. Sie sprechen neben der Beziehung zu Simon auch über die Lebensrealität der afghanischen Geflüchteten, die in Paris nicht erwünscht sind und tagsüber das Lager verlassen müssen.

Dieutre zieht Parallelen zwischen seiner Beziehung und der Situation der Geflüchteten. Wie die Migranten, die tagsüber aus dem Lager verschwinden müssen, hatte er selbst nie einen Schlüssel zu Simons Wohnung und musste diese tagsüber verlassen. Zudem beschreibt Èva beide Welten als "Welten von Männern" – seine homosexuelle Beziehung zu Simon, in der Frauen keine Rolle spielen, und das Camp, das ausschließlich von Männern bewohnt wird. Die Parallelen verdichten sich im Moment des Abschieds: Mit dem Ende der Beziehung zwischen Vincent und Simon verlässt auch er die Gegend um Jaurès. Zur selben Zeit wird das Camp der afghanischen Geflüchteten unter der Brücke geräumt, wodurch auch sie gezwungen werden, diesen Ort zu verlassen.

Die Perspektive aus dem Fenster
Die Perspektive der Aufnahmen aus dem Fenster spielt eine zentrale Rolle in Jaurès und wird zu einem Sinnbild für die Verbindung und Trennung der verschiedenen Welten. Die Kamera zeigt den Blick auf die Straße, wo Verkehr, vorbeigehende Passanten, das Wetter und das Flüchtlingslager unter der Brücke zu sehen sind. Diese Außenwelt wird durch die Geräuschkulisse aus dem Inneren der Wohnung ergänzt: das Rauschen der Dusche, das Klappern von Geschirr, Gespräche, Nachrichten im Fernsehen und das gelegentliche Spiel eines Klaviers. Anfangs ist Simons Stimme noch präsent, doch im Verlauf des Films verstummt sie zunehmend und spiegelt so wider, wie sich ein Ende der Beziehung anbahnt.
Vincent und Simon bezeichnen ihr gemeinsames Frühstück am Fenster als „kleines Theater“.

Filmkritiken
Einer der schönsten Liebesfilme der letzten Jahre. Der Filmemacher Vincent Dieutre schaut mit Eva Truffaut (einer Tochter von François) alte Videoaufnahmen an. Blicke auf die Straße an der Pariser Metrostation Jaurès. Schwirrender Schwalbenflug. Ein Zeltlager von Flüchtlingen am Canal Saint Martin. Ein Gefühl der Unbehaustheit, die Wohnung war die des Geliebten, des Aktivisten Simon, er hat Vincent nun verlassen. Was bleibt von dieser Liebe, die Frage spukt durch die alten Bilder.
- SZ

Die Filmkritiken zu Jaurés sind allgemein sehr positiv ausgefallen. Wie in der Kritik der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wird insbesondere die emotionale Erinnerung an die Beziehung mit Simon hervorgehoben. So wurde er auf der Berlinale 2012 mit dem Teddy Jury Award ausgezeichnet. Die Berlinale war das erste große Filmfestival, was mit dem Teddy Award einen offiziellen LGBTIQ-Filmpreis eingeführt hat und ehrt diesen Film damit besonders.


Internetquellen
https://www.sueddeutsche.de/kultur/kurzkritiken-zu-den-kinostarts-der-woche-sechs-komiker-und-ein-milky-way-1.1741018
https://www.berlinale.de/de/2012/programm/20123637.html

Bildquellen
https://www.filmstarts.de/kritiken/203069/bilder/?cmediafile=20505399