Marten Bournot, Till Jochem, Tessa Schmols, 11.04.2024
Ulrich Gutmair, originally from Bavaria, moved to Berlin in 1989, just three weeks before the fall of the Berlin Wall, to pursue studies in History and Journalism. And guess what? He is still there today. Growing up, music was always a passion for him, from the Neue Deutsche Welle and Punk to Acid House. Upon arriving in Berlin, he immersed himself in the techno scene. After completing his studies, he wrote a thesis on William S. Burroughs, Industrial Music, and Techno Culture. He then took on roles as the feuilleton section editor for the Netzeitung from 2000 to 2007, and later as a journalist at taz, where he initially oversaw the Berlin culture section and now serves as a political editor for wochentaz. His areas of expertise include history and pop culture, and he has translated various works from English and contributed to magazines like De:Bug and Spex. He is also the author of two books. "The First Days of Berlin: The Sound of the Turn" explores the immediate post-Wende period in Berlin-Mitte, focusing on underground culture amidst impending gentrification. His second book, "We Are the Turks of Tomorrow: New Wave, New Germany," examines the cultural revolution of the Neue Deutsche Welle. This movement challenged societal norms and embraced diversity, with artists addressing everyday life and societal issues through music and satire. In both Punk and Neue Deutsche Welle, the city of Berlin served as a central theme, reflecting a celebration of modern life, artificiality, alienation, and the complexities of the 20th century.
Welche drei Ereignisse und Entwicklungen haben deutsche Städte in den vergangenen 80 Jahren am stärksten geprägt, transformiert?
Rückwärts: Gentrifizierung, sozialer Wohnungsbau, Bombenkrieg.
*Zwischen den vorgetragenen Textpassagen wurden verschiedene Punkplatten gespielt, die das Thema noch weiter unterstreichen sollten*
MALE: SIRENEN. 1979
BILDSTÖRUNG: FRANKFURT BABYLON, 1981
Ska und Reggae im Jahr 1981! Das Album scheint zu spät zu kommen, deutlich zu spät. Die Neue Deutsche Welle (NDW) hat bereits zwischen Sommer '81 und Sommer '82 den Mainstream erobert. Bands wie DAF sind längst über den Sound hinaus, den man auf dem Bildstörung-Album hören kann. Tatsächlich handelt es sich größtenteils um Songs von 1979, die dort zu hören sind.
Fred Hüttig, der Sänger und Texter der Frankfurter Punkband Bildstörung und Herausgeber des Fanzines Xerox Chic, reflektiert über diese Zeit. Er erinnert sich daran, wie er Ende 1978 vom Frankfurt nach Düsseldorf zum Weihnachtsfestival fuhr. Dort spielten Bands wie Mittagspause, Male, S.Y.P.H. und Croox. Insbesondere beeindruckte ihn, dass diese Bands auf Deutsch sangen, was ihn dazu inspirierte, auch auf Deutsch zu texten. Vorher hatte er versucht, englische Texte zu schreiben, doch sein Schul-Englisch war nicht besonders gut. Das Weihnachtsfestival markierte einen Wendepunkt, der ihn dazu brachte, auf Deutsch zu texten.
Fred hatte zuvor eine Band namens Leukoplast gegründet, die später in TBC umbenannt wurde. Doch er war mit der musikalischen Situation nicht zufrieden. Die Zusammenarbeit mit Musti Üngör, dem Gitarristen von Bildstörung, begann, als sie sich trafen und begannen, deutsche Songs zu schreiben. Musti konnte nur Rhythmusgitarre spielen, was jedoch ausreichte. Zusammen bildeten sie die Band Bildstörung, wobei Musti die Musik schrieb und Fred die Texte.
Fred begann nun, deutsche Texte zu schreiben, die von Filmen, Comics und dem Leben inspiriert waren. Bekannte Songs wie "Frankfurt Babylon" und "Retortenkinder" entstanden. In "Retortenkinder" ließ sich Fred von der Geburt des ersten Retortenbabys, Louise Brown, inspirieren. Der Song thematisiert die Herausforderungen der modernen Welt. In "Frankfurt Babylon" feiert Bildstörung ihre Heimatstadt Frankfurt, die als eine moderne Version von Babylon dargestellt wird. Hier wird das Leben in der Stadt trotz aller Entfremdung gefeiert.
Die Neue Welle, insbesondere die deutschsprachige Ausprägung des New Wave, feiert die Moderne und ihre Ästhetik sowie das Leben in der Stadt. Diese Ästhetik erinnert an den Punk, der die Vorstellung vertritt, dass das Künstliche das Wahre ist und das Kaputte das Heile. In der Stadt kann Mode gedeihen, und Stil und Stadt gehören zusammen.
Als Fred Hüttig vom Düsseldorfer Weihnachtsfestival zurückkehrt, erkennt er, dass die Düsseldorfer modisch weiter entwickelt sind als die Frankfurter. Diese Zeit war geprägt von DIY-Mode und Selbstausdruck, bei dem alte Kleidungsstücke modifiziert wurden, um einem punkigen Stil zu entsprechen. Fred trug oft Jacketts und Anzughosen mit kurzen Haaren und wählte bei Konzerten manchmal den Rude Boy Style oder eine Fliegerjacke.
"Frankfurt Babylon" und "Retortenkinder" sind Reflexionen über das Leben in einer sich verändernden Welt und zeigen die künstlerische Entwicklung und den Einfluss der urbanen Umgebung auf die Musik und den Stil von Bildstörung.
S.Y.P.H.: ZURÜCK ZUM BETON 1980
Man kann sich aber nie sicher sein, wie ernst das wirklich gemeint ist, und ob man es nicht vielmehr mit einer ironischen Sprechhaltung zu tun hat. Man kann Z Z B als frühes Beispiel von deutschem Kälte-Pop begreifen. Gegen die Lüge der Heilen Welt, gegen die falsche Naturverbundenheit der Hippies und Ökos. (Rudi Dutschke!) Wenn man aber Interviews mit SYPH liest, dann kommt da doch eher eine Freak-Idee von heiler Welt zum Vorschein, die sich hinter dem Lob des Betons verbirgt. Hier wird Entfremdung kritisiert, aber zugleich werden die Leute provoziert, die solche entfremdung lautstark beklagen. Denn der Sound und die Lyrics von SYPH laden nicht zum Träumen ein, formulieren keine Utopie, sondern genießen die Entfremdung von Mensch und Natur doch auch ein bisschen. Einer der frühesten Songs von MiPau aus Düsseldorf ist ein Stadt-Song und er ist ganz offensichtlich ironisch, auch wenn sich hier eine ähnliche Freude an ambivalenten Botschaften offenbart.
MITTAGSPAUSE: INNENSTADTFRONT 1979
Es ist wahr, dass man sich nie sicher sein kann, wie ernsthaft bestimmte künstlerische Aussagen gemeint sind, insbesondere wenn es um ironische Sprechhaltungen geht. Ein gutes Beispiel dafür ist die Band SYPH, die man als frühes Beispiel deutschen Kälte-Pops verstehen kann. Sie setzen sich gegen die Lüge der heilen Welt, gegen die oft oberflächliche Naturverbundenheit der Hippies und Ökos, ein (eine Haltung, die auch von Rudi Dutschke unterstützt wurde). Doch in Interviews mit SYPH wird deutlich, dass hinter dem Lob des Betons eher eine ironische Vorstellung einer heilen Welt steckt. Sie kritisieren die Entfremdung, aber gleichzeitig provozieren sie diejenigen, die lautstark über diese Entfremdung klagen. Die Musik und die Texte von SYPH laden nicht zum Träumen ein und formulieren keine Utopie. Stattdessen scheinen sie die Entfremdung von Mensch und Natur zu genießen, zumindest ein wenig. Ein ähnlicher Ansatz zeigt sich auch in einem der frühesten Songs von MiPau aus Düsseldorf, einem Stadt-Song, der offensichtlich ironisch ist. Hier wird eine ähnliche Freude an ambivalenten Botschaften deutlich.
MALE: 1 TAG DÜSSELDORF, 1979
Willy Peter Stoll, geboren am 12. Juni 1950 in Stuttgart und gestorben am 6. September 1978 in Düsseldorf, war zu seiner Zeit ein kontrovers diskutierter junger Mann. Als sensibler Junge beschrieben, wurde er aus dem Vaihinger Hegel-Gymnasium verwiesen, nachdem er wegen Disziplinlosigkeit aufgefallen war. Seine Ignoranz gegenüber der Einberufung zum Wehrdienst führte dazu, dass er von Feldjägern zur Kaserne gebracht wurde. Dort setzte er sich bei der Roten Hilfe für bessere Haftbedingungen von RAF-Mitgliedern ein und knüpfte dabei Verbindungen zu Personen wie dem Rechtsanwalt Klaus Croissant, der ihm den entscheidenden Anstoß gab, sich der RAF anzuschließen. Im Jahr 1974 beteiligte sich Stoll an der Besetzung des Hamburger Büros von Amnesty International, um gegen die Haftbedingungen von RAF-Mitgliedern zu protestieren. Im selben Jahr verübte er einen erfolglosen Molotowcocktail-Anschlag auf das Ärztekammer-Haus in Stuttgart. Ende 1976 ging er in den Untergrund und brach mit seiner Familie. Stoll wird beschuldigt, an der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer sowie an der Ermordung der vier Begleitpersonen unmittelbar beteiligt gewesen zu sein. Am 6. September 1978 wurde Stoll beim Besuch des Chinarestaurants "Shanghai" in Düsseldorf von anderen Gästen erkannt, die die Polizei alarmierten. Als Zivilfahnder ihn kontrollieren wollten, zog er eine Waffe und wurde daraufhin von einem Polizisten mit vier Schüssen lebensgefährlich verletzt. Er verstarb, bevor er das Krankenhaus erreichte.
Die Beschreibung "Adamsapfel ausgeprägt" wurde oft in Zusammenhang mit Stoll verwendet und deutet auf eine spezifische körperliche Merkmalsbeschreibung hin.
SPERMA: ZÜRI PUNX 1979
Die Züri Punx sind nicht nur Punks in Zürich, sondern die Verkörperung der rebellischen Energie der Stadt. Sie stehen gegen die Norm, gegen den Zwang zur Arbeit, gegen den Calvinismus, gegen die rigide Ordnung und gegen die Langeweile des Alltags. In ihren grauen Häusern und unter dem wachsamen Auge der Polizei tragen sie ihre Uniformen aus Blau stolz wie eine Auszeichnung. "Züri brennt" von Asche bedeckt, aber aus den Flammen erheben sich ihre Stimmen. Die Identifikation mit der Stadt ist tiefgreifend. Sie leben hier, daher gehört die Stadt ihnen. Es ist eine Form der Aneignung, eine Möglichkeit der Repräsentation, ein Ausdruck ihres Anspruchs darauf, ein integraler Bestandteil der urbanen Landschaft zu sein. "Hallo, wir sind auch hier!", rufen sie aus. Auch wenn sie vielleicht nicht viel zu sagen haben, drücken sie sich dennoch aus, machen sich bemerkbar. Die Bands, die von den Züri Punx gegründet werden, sind ein wichtiger Teil ihrer Identität. Es ist nur logisch, dass diese Bands und ihre Hits in ihrem Lied aufgezählt werden. Es ist selbstreferenziell, postmodern und zeigt, wie sie ihre eigene Kultur schaffen und feiern.
Rosa: "Jede Nacht ein neues Motto."
Die Zeit der deutschen Punk-Fanzines zwischen 1978 und 1982 war eine Ära der Helden für einen Tag. Inmitten von Regen und Alltagsroutine fanden sich rebellische Geister zusammen, die gegen die Normen und Zwänge der Gesellschaft aufbegehrten. Sie waren die Protagonisten der Street Action, eine Mischung aus politischem Bewusstsein und purer Unbeschwertheit. Street Action war keine gewöhnliche Demonstration; es war ein Akt der Spontaneität und des Protests, entstanden aus Langeweile und einem Durst nach Freiheit. Es war das Zerschlagen von Flaschen, das Erfinden phantastischer Spiele und das provokative Spiel mit den Grenzen der Gesellschaft. Es war die Kunst, den Bullen einen Streich zu spielen und dabei noch Spaß zu haben. Die No-Future-Generation wandelte ihren eigenen Weg, manche strebten nach oben, andere fanden sich in der Gosse wieder. Doch für diejenigen, die auf der Straße lebten, war dies längst Alltag. Es gab jene, die das Ende dieser Idee vorhergesehen hatten, die in endlosen Diskussionen und Briefwechseln ihre Gedanken austauschten, auch wenn nicht jeder ihre Worte hören wollte. Die Langeweile war der größte Feind, und um sie zu bekämpfen, brauchte man Raum. Die Szene war dieser Raum, ein komplexes Geflecht aus Bars, Clubs und den Menschen, die man dort traf. Es war der Rahmen für das nächtliche Treiben, für Schlägereien, Streitereien, aber auch für Momente der Freiheit und des gemeinsamen Aufbegehrens gegen die Enge des Alltags. Jeden Tag brachte neue Konflikte, jede Nacht neue Geschichten. Es war eine Zeit voller Leidenschaft, Musik und Rebellion, in der jeder für einen Tag ein Held sein konnte.
SPIDER MURPHY GANG: FREIZEIT ‘81 1982
Die Spider Murphy Gang erzählt in ihrem Song "Freizeit 81" eine Geschichte, die sich in den Straßen Münchens abspielt. Mit dem Sound des Rock'n'Roll und den Worten einer Moritat fangen sie die Atmosphäre der Stadt ein. Doch dieser Song ist mehr als nur eine musikalische Momentaufnahme - er ist eine Hommage an eine bewegte Zeit in München. Freizeit 81 war nicht nur der Titel eines Songs, sondern auch der Name einer linksradikalen Aktionsgruppe, die in den frühen 1980er Jahren in München aktiv war. Diese Gruppe, hervorgegangen aus der Hausbesetzer- und Punkbewegung, hatte sich zum Ziel gesetzt, Kampf, Kunst, Punk und Politik miteinander zu verbinden. Sie organisierten Veranstaltungen, Demonstrationen und Aktionen, um gegen Wohnungsnot, Spekulation und staatliche Repression zu protestieren. Die Spider Murphy Gang fängt in ihrem Song die Atmosphäre dieser Zeit ein, mit einem munteren Skasong, der von der Freizeit 81 geistert durch die Stadt erzählt. Es ist eine Erinnerung an die Jugendlichen, die sich gegen die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft auflehnten, auch wenn ihre Aktionen von vielen nicht verstanden wurden. Doch für sie war es wichtig, aktiv zu sein und ihre Stimme zu erheben, auch wenn es manchmal mit Hass und Gewalt einherging. Die Geschichte von Freizeit 81 endete mit der Zerschlagung der Gruppe durch die Polizei im Oktober 1981. Viele ihrer Mitglieder wurden verhaftet und verurteilt, einige setzten sich weiter für politische Ziele ein, andere verschwanden aus dem öffentlichen Leben. Doch ihr Vermächtnis lebt weiter, als Erinnerung an eine Zeit des Aufbruchs und des Widerstands gegen Ungerechtigkeit.
Jede Nacht fliegt ein Pflasterstein
In eine Schaufensterscheibe rein
Steinewerfen macht dir Spaß
Mit einer Überdosis Haß!
Überdosis Haß!
Überdosis Haß!
Freizeit 81 ...
Mit deiner Pflastersteinphilosophie
Stehst du auf Gewalt und Anarchie
Steinewerfen macht dir Spaß
Mit einer Überdosis Haß!
Überdosis Haß!
Überdosis Haß!
Freizeit 81
Freizeit 82
Freizeit 83
Freizeit 84
Der Song endet mit einem wilden Saxofonsolo. Free Jazz. Vielleicht ist das ein musikalischer Gruß an die Riots in Detroit im Jahr 1968.